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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Belgien (Geschichte 1830-65)

und das Kabinett Nothomb wußte sich nicht zu halten. Van de Weyer von der liberalen Partei trat im Juli 1845) an die Spitze der Verwaltung und versuchte noch einmal die Union zu befestigen. Doch als er in der Frage des mittlern Unterrichts die Prärogative der civilen Staatsgewalt mit Entschiedenheit geltend machte, zerfiel er mit seinen von der Priesterpartei beherrschten Amtsgenossen, besonders Malou und Dechamps, und kehrte auf seinen diplomat. Posten nach London zurück. So entstand im März 1846 eine rein kath. Verwaltung unter der Leitung von de Theux. Der Gedanke der Union war aufgegeben. Zur Beratung einheitlichen Handelns bei den Wahlen für 1847 trat 15. Juli 1840 ein Kongreß der Liberalen in Brüssel zusammen, an dem der spätere Minister Advokat Frère aus Lüttich sich besonders beteiligte. Zu derselben Zeit feierte man in Lüttich mit allem Aufwand kirchlichen Pomps den 600jährigen Jahrestag der Einführung der Fronleichnamsprozession durch die heil. Julia. Die versammelten in- und ausländischen Bischöfe hatten hierbei Gelegenheit, die neue Gestaltung der Verhältnisse zu besprechen und neue Mittel zur Entfernung der drohenden Schwierigkeiten zu beraten.

Die Wahlen brachten den Liberalen eine, wenn auch nicht sehr bedeutende, Majorität in der Abgeordnetenkammer. Ein liberales Kabinett, in dem Rogier und Frère-Orban die bedeutendsten Mitglieder waren, kam 12. Aug. 1847 ans Ruder. Kaum hatte dies mit der Ausführung des liberalen Programms begonnen, als 1848 die Februarrevolution über Europa hereinbrach. Auch B. hatte Mißvergnügte, die der Ruhe des Staates gefährlich werden konnten. Der König erklärte im Ministerrat, daß er bereit sei, die Krone der Nation zur Verfügung zu stellen. Als dies bekannt wurde, folgten überall laute und aufrichtige Demonstrationen zu Gunsten der Monarchie. Mit großer Energie wurden darauf von den Ministern zahlreiche Reformen vorgenommen. Unter dem Eindruck, den die damaligen Revolutionsstürme Europas hervorriefen, wurden die eingebrachten Gesetzentwürfe alle in dem einen Monat März von einer großen Majorität angenommen. Die wichtigsten waren die Herabsetzung des Wahlcensus auf das Minimum von 20 Frs., die Erklärung der Unverträglichkeit des Staatsamtes mit dem Kammermandat und die Aufhebung der Zeitungsstempel.

Infolge der neuen Wahlgesetze wurde die Kammer aufgelöst, und es trat eine neue zusammen, in der das liberal-konstitutionelle Element bei weitem die Oberhand hatte. Im Verein mit diesem neuen Parlament vermochte das Ministerium nun in den nächsten Jahren sein Programm mit Entschiedenheit durchzuführen, obschon die Gegenpartei manchen hitzigen Kampf veranlaßte. Wie immer erbitterte sich die ultramontane Partei am meisten über die Maßregeln im Unterrichtswesen. Das Gesetz vom 20. Juli 1849 verordnete, daß die Prüfungskommission für die Universitäten nicht mehr wie bis jetzt großenteils von den Kammern, wobei immer polit. Rücksichten obwalteten, sondern von der Regierung ernannt werden sollte. In der Sitzung von 1850 ward endlich die Frage wegen Organisierung des mittlern Unterrichts erledigt: die mittlere Schule sollte Staatsschule sein; die Geistlichkeit hatte nur Zutritt zum Religionsunterricht. Als 1851 die Reduzierung des Militärbudgets verhandelt wurde, trat das Ministerium der Ansicht der Majoritätsfraktion bei, die Militärausgaben auf 25 Mill. Frs. zu beschränken. Zu den hervorragendsten Maßnahmen des Kabinetts Rogier-Frère gehörten noch Aufhebung der Gewerbesteuer für einzelne niedrige Kategorien von Gewerken, Herabsetzung der Brieftaxe im Innern (10 und 20 Cent.), Gründung der Nationalbank, Aufstellung einer Steuergebühr auf Erbschaften in direkter Linie, zu deren Verwirklichung die Krone sich 1861 zur Auflösung des Senats entschließen mußte. Auch folgte das Kabinett der von England ausgegangenen Freihandelsbewegung. Bereits das Gesetz vom 6. Aug. 1849 erleichterte den Transithandel. Es folgten mehrere Gesetze zur Aufhebung oder Herabsetzung von Einfuhr- und Ausfuhrzöllen; die Aufhebung der Schutzzölle wurde vorbereitet. Mit England, den Niederlanden und dem Zollverein wurden neue Handelsverträge abgeschlossen.

Mit dem Staatsstreich Napoleons vom 2. Dez. 1851, der eine große Anzahl franz. Flüchtlinge auf belg. Boden warf, traten erhebliche Gefahren ein für die Fortdauer der freundlichen Beziehungen zum südl. Nachbarstaate, insbesondere infolge der Gründung mehrerer von Flüchtlingen geleiteter antibonapartistischer Journale. Napoleon III. war dem liberalen belg. Kabinett sehr übelgesinnt. Die Unterhandlungen über einen neuen Handelsvertrag hatten schlechten Fortgang, obgleich B. das Zugeständnis einer Konvention das litterar. Eigentumsrecht betreffend machte, wonach Büchernachdruck verboten wurde (22. Aug. 1852). Infolge dieser Konvention trat der Minister Frère-Orban zurück, dem das ganze Kabinett bald folgte. Auch im Lande selbst hatte sich gegen dasselbe eine starke Opposition gebildet. Heinrich de Brouckère trat nun an die Spitze einer neuen, aus gemäßigt liberalen und meist nicht der Kammer angehörigen Elementen bestehenden Verwaltung. Die Hauptaufgabe derselben war die Wiederherstellung des guten Einvernehmens mit Frankreich. Ihr erster polit. Akt bestand denn auch in der Vorlage eines Gesetzes, die Bestrafung der Beleidigungen fremder Machthaber betreffend, welches 20. Dez. 1852 angenommen ward. Darauf kam auch der neue Handelsvertrag zu stande (20. Febr. 1854).

Infolge der Wahlen von 1854 berief die Krone im März 1855 ein klerikales, wenn auch aus sehr gemäßigten Männern zusammengesetztes Kabinett, an dessen Spitze die persönlich beliebten Deputierten de Decker (Inneres) und Graf Vilain XIIII (Auswärtiges) standen. Dies ermunterte die Klerikalen und die Geistlichkeit zu neuen Angriffen auf den öffentlichen höhern Unterricht. Der Minister de Decker, wenn auch nicht die absolute Lehrfreiheit der Staatsprofessoren anerkennend, versuchte doch dem hitzigen Eifer seiner Parteigenossen Einhalt zu thun. Später (1. Mai 1857) wurde das Gesetz angenommen, welches die Ansprüche für die Staatsprüfungen herabsetzte. 1850 wurde (21. Juli) unter der allgemeinsten Teilnahme das 25jährige Regierungsjubiläum König Leopolds festlich begangen. Der leidenschaftlichste Kampf der Parteien entspann sich, als Anfang 1857 der Gesetzentwurf des Justizministers Alph. Nothomb über Organisierung des Stiftungswesens und der Wohlthätigkeitspflege zur Verhandlung gelangte, welcher fast jede Staatsaufsicht über geistliche Stiftungen und ihre finanzielle Verwaltung aufhob. Es erfolgten tumultuarische Auftritte in Brüssel und mehrern andern Orten, die militär. Einschreiten und das Aufbieten der Bürgergarde nötig machten. Infolgedessen wurden, noch