Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Bevölkerungsstatistik; Bevölkerungstheorie

930

Bevölkerungsstatistik - Bevölkerungstheorie

tischen Bethätigung der B. können gegenwärtig wohl nur noch die Angelegenheiten der Auswanderung (s. d.) in Frage kommen, da die öffentliche Gesundheitspflege selbständig zu betrachten ist. - Vgl. von Mohl, Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, Bd.1, S. 97-174 (3.Aufl., Tüb. 1832-34); ders., Die Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaften, Bd. 3, S. 401-517 (Erlangen 1858); Geffcken in Schönbergs "Handbuch der polit. Ökonomie", Bd. 2 (3. Aufl., Tüb. 1891).

Bevölkerungsstatistik, s. Bevölkerung.

Bevölkerungstheorie, auch Bevölkerungslehre im engern Sinne oder Populationistik (s. d.). Die B. sucht die von der Bevölkerungsstatistik erforschten Thatsachen (s. Bevölkerung) auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Im Vordergrunde des theoretischen und praktischen Interesses stehen dabei die das Wachstum der Bevölkerung betreffenden Fragen. Das Verdienst, dieselben zum erstenmal als wissenschaftliches Problem mit Erfolg behandelt zu haben, gebührt dem Engländer R. Malthus. Dieser hat, wenn auch nicht ohne Vorläufer, gegenüber der bis dahin allgemein üblichen, einseitigen Überschätzung der Vorteile einer zahlreichen Bevölkerung (s. Bevölkerungspolitik), als erster mit Nachdruck und in geschickter Formulierung auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die aus einer uneingeschränkten Volksvermehrung entspringen. In seinem "Essay on the principles of population" (Lond. 1798) weist Malthus darauf hin, daß die Menschen das Streben und die Fähigkeit haben, sich unbegrenzt zu vermehren, was auch zweifellos geschehen würde, wenn nicht mancherlei Hemmnisse (checks) jenem natürlichen Triebe entgegenwirkten. Den der Volksvermehrung entgegenstehenden Faktor sieht Malthus in der Unzulänglichkeit der Nahrungsmittel, die sich nach seiner Annahme nur in arithmet. Progression, also wie 1, 2, 3, 4 u. s. w. vermehren lassen, während die Bevölkerung in geometr. Progression steigt, also wie 1, 2, 4, 8 u. s. w. Das natürliche Wachstum der Bevölkerung wird daher nach Malthus notwendig durch natürliche Repressivmittel, Hunger, Not, Elend, die namentlich auf die Kindersterblichkeit einwirken, zurückgehalten, wenn sich die Menschen nicht freiwillig zur Anwendung von Präventivmitteln, namentlich Vorsicht in der Eheschließung und zur Enthaltsamkeit (moral restraint) entschließen. Gegen diese Malthussche B. läßt sich freilich einwenden, daß das für die Vermehrung der Nahrungsmittel aufgestellte Schema ein ganz willkürliches ist, das auch Malthus eigentlich nur als Beispiel angenommen hat. Ferner kann überhaupt auf viele Jahrhunderte hinaus nicht von einem objektiven Mangel an Nahrungsmitteln die Rede sein, solange ungeheure Strecken der Erde noch gar nicht oder nur sehr ungenügend ausgenutzt sind und auch in den alten Ländern das mögliche Maximum der Intensität des Ackerbaues, das wir noch gar nicht kennen, nicht erreicht ist. Trotz dieser und anderer Ausstellungen im einzelnen muß jedoch der Kern der Malthusschen Lehre, die Behauptung eines nicht nur möglichen, sondern oft auch thatsächlich vorhandenen Mißverhältnisses zwischen der Vermehrung der Bevölkerung auf der einen und der der Unterhaltsmittel auf der andern Seite als unumstößliche Wahrheit anerkannt werden. Insbesondere ist zuzugeben, daß in den dichtbevölkerten Kulturländern die äußerste, d. h. die ärmste Schicht der Bevölkerung fortwährend durch Not und Elend vermindert wird, wie die Ziffern über die Kindersterblichkeit in dieser Schicht im Vergleich mit den bemittelten Klassen deutlich beweisen; daß ferner auch in den besser gestellten Klassen durch die vermehrte Konkurrenz viele leicht in Arbeitslosigkeit verfallen und dadurch auf jene unterste Stufe herabgedrückt werden. Dieses Übel ist aber wesentlich ein sociales. Tausende sterben jährlich an Entbehrungen und Hungerkrankheiten, nicht weil die Nahrungsmittel, deren sie bedürfen, nicht vorhanden wären, sondern weil sie nicht die Mittel haben, sie sich zu verschaffen; und wenn die unbemittelten Klassen jede augenblickliche Besserung ihrer Lage nur benutzen, um leichtsinnige Heiraten zu schließen und sich proletarisch zu vermehren, so ist nicht abzusehen, wie jenes Übel auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung gehoben werden könnte. Aber auch wenn man sich irgendeine socialistische oder kommunistische Idealorganisation verwirklicht denken wollte, so würde auch diese eine uneingeschränkte Vermehrung der Bevölkerung, wie sie der natürlichen Tendenz entspricht, auf unbegrenzte Dauer nicht ertragen können, es müßte doch schließlich wieder die menschliche Vernunft dem zügellosen Naturtriebe entgegentreten. Daß diese Zügelung ohne Mitwirkung des menschlichen Willens von selbst durch ein automatisch wirkendes organisches Naturgesetz erfolge, wie Doubleday, Sadler, Spencer, Carey, Proudhon u. a. meinen, ist eine ganz willkürliche, meistens auf theologisierenden Mysticismus oder bodenlosen Optimismus gestützte Behauptung. Doubleday behauptet, die Fruchtbarkeit der Menschen nehme um so mehr ab, je besser sie sich nähren, und er beruft sich dafür auf die Beobachtungen an gemästetem Vieh. Sadler hat ähnliche Ansichten, und die andern genannten meinen, die Entwicklung des Nervensystems und die geistige Thätigkeit ständen im umgekehrten Verhältnis zur Fortpflanzungsfähigkeit; je mehr der Mensch sich geistig entwickle, um so weniger werde er sich vermehren. Daß der Mensch sich nicht in so starkem Verhältnis vermehren kann wie die niedern Tiere, wird niemand in Abrede stellen, aber seine wirkliche Vermehrbarkeit kann recht wohl mit Rücksicht auf die gegebenen wirtschaftlichen und socialen Daseinsbedingungen der Einzelnen zu einer thatsächlichen Übervölkerung führen, die dann auf empfindliche und schmerzliche Weise ihr Heilmittel aus sich selbst erzeugt. Daß hierin ein Widerspruch mit den sonst herrschenden Naturgesetzen liege, wird angesichts der heute anerkannten Lehre vom Kampfe ums Dasein in der Natur niemand mehr behaupten wollen. Wenn die fortschreitende geistige Entwicklung der Menschheit Abhilfe bringen soll, so wird dies sicherlich nicht auf automatisch-organischem, sondern auf dem Wege der bewußten Selbstbeherrschung geschehen. Auf absehbare Zeit aber ist die Übervölkerung nur eine von der Volkszahl und Volksdichtigkeit unabhängige, also nur relative Erscheinung, die mit wirtschaftlichen und socialen Mißverhältnissen zusammenhängt und durch Herstellung eines bessern Gleichgewichts von Produktion und Konsumtion, unter Umständen auch durch Auswanderung beseitigt werden kann.

Unter dem Eindruck der starken Vermehrung insbesondere des großindustriellen Proletariats ist in England neuerdings eine unter dem Namen Neo-Malthusianismus bekannte Bewegung entstanden, die ihren Mittelpunkt in der 1877 geschlossenen