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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Bibel (Bibelhandschriften und biblische Textgeschichte)


lische Verfasserschaft des Matthäusevangeliums, des Epheserbriefs, der Briefe an Timotheus und Titus und des ersten Petrusbriefs Bedenken zu äußern. Als anerkanntes Ergebnis dieser Forschungen darf der nichtapostolische Ursprung des Hebräerbriefs und des zweiten Briefs Petri und die Verschiedenheit der Verfasser der nach Johannes benannten Schriften betrachtet werden. Die Arbeiten F. Chr. Baurs (s. d.) und der Tübinger Schule begründeten eine neue Epoche. Von der sog. äußern Kritik schritt Baur zu der innern fort, welche die einzelnen Schriftdenkmäler aus dem lebendigen Prozesse der Zeitgeschichte und deren einander teils befehdenden, teils neutralisierenden Gegensätzen zu begreifen suchte. Die Folge dieser Betrachtungsweise war, daß auch die Echtheit einer Reihe von bisher unbeanstandeten Schriften in Zweifel gezogen und, was namentlich die histor. Bücher betraf, Auswahl, Auffassung und Gestaltung des Stoffs als durch den bestimmten Standpunkt und Ideenkreis ihrer Verfasser beeinflußt erwiesen wurden. Die fortschreitende Forschung hat diese Kritik vielfach ermäßigt und durch anderweite Erwägungen ergänzt, welche namentlich die von Baur vernachlässigte philol. Seite in Betracht zogen. Die Abfassungszeit der Evangelien und der meisten neutestamentlichen Briefe, die Baur und Schwegler (s. d.) großenteils in die zweite Hälfte des 2. Jahrh. verwiesen hatten, wurde wieder höher hinaufgerückt. Gegenwärtig kann als feststehend betrachtet werden, daß auf die Gestaltung der synoptischen Evangelien neben der allgemeinen Abhängigkeit des Schriftstellers von seiner Zeit auch der theol. Unterschied des judenchristl. und des heidenchristl. Standpunktes, auf die Komposition der Apostelgeschichte das Streben nach möglichster Ausgleichung des Paulinischen und des Petrinischen Evangeliums, auf Stoff und Form des Johannesevangeliums der Geist einer den Ereignissen schon ferner stehenden Zeit und das theol. Bedürfnis, die äußere Geschichte Jesu im Lichte der Idee zu schauen, bestimmenden Einfluß geübt habe. Die nicht unmittelbar apostolische Abfassung des Matthäusevangeliums wenigstens in seiner heutigen Gestalt ist jetzt von den Kritikern allgemein, die des Johannesevangeliums auch außerhalb der strengen Tübinger Schule von vielen Autoritäten zugestanden. Hinsichtlich der Briefe ist wenigstens die "Unechtheit" der sog. Pastoralbriefe und des Epheserbriefs, sowie sämtlicher kath. Briefe (auch des Briefs des Jakobus, des ersten Briefs Petri und des ersten Briefs des Johannes) von den namhaftesten Vertretern der kritischen Richtung zugegeben. - Litteratur s. unter Kanon.

II. Bibelhandschriften und biblische Textgeschichte. Wie bei allen aus dem Altertume auf uns gekommenen Schriften kann auch bei der B. der von den Handschriften dargebotene und danach gedruckte Text nicht für identisch mit dem ursprünglichen gehalten werden. Auch er stellt vielmehr etwas im Laufe der Zeit allmählich Gewordenes dar: der Text hat seine Geschichte gehabt. Der Text war nicht nur zufälligen Änderungen und Beschädigungen ausgesetzt, sondern ebenso trugen auch bewußte Versuche, etwa eingerissene Schäden zu beseitigen, dazu bei, seine Gestalt von der ursprünglichen zu entfernen. Religiöse Schriften aber sind noch dazu der Gefahr ausgesetzt, bewußte Abänderungen im dogmatischen Interesse zu erfahren. Eine Kanonisierung heiliger Schriften ist kaum denkbar, ohne daß auch eine gewisse Überarbeitung des Textes gleichzeitig eintritt oder doch nachfolgt. Wir können also bei der B. noch weniger als bei profanen Schriften erwarten, den ursprünglichen Text zu besitzen. Es ist daher, wie bei dem Studium der profanen Litteraturen, auch für eine theol. Behandlung der Heiligen Schrift, welche die Gedanken der biblischen Schriftsteller zu erfahren wünscht, unerläßlich, den überlieferten Text von Verderbnissen zu säubern und soweit möglich den ursprünglichen herzustellen. Die Thätigkeit, die den überlieferten Bibeltext auf seine Richtigkeit zu prüfen und etwaige Schäden zu heilen sucht, pflegt man "niedere Kritik" zu nennen und von dieser die Arbeit der "höhern Kritik" zu unterscheiden, die sich mit Ermittelung der Herkunft und Abfassungszeit der biblischen Schriften und der Prüfung der hierüber vorhandenen Überlieferung beschäftigt. Doch läßt sich beides nicht trennen. Die Arbeit der "höhern Kritik" kann erfolgreich betrieben werden nur unter genauester Berücksichtigung des Textes, gewährt aber für die Arbeit der niedern Kritik nicht selten leitende Gesichtspunkte.

A. Das Alte Testament. Da die im Alten Testament erhaltenen Schriften sich nach ihrer Entstehung über etwa ein Jahrtausend verteilen und die vorexilische Litteratur überhaupt nur in Trümmern und eingearbeitet in jüngere Werke auf uns gekommen ist, so muß man auf einen Text gefaßt sein, der sich mit der innern Entwicklung des Judentums gebildet hat und daher von dem ursprünglichen wahrscheinlich nicht unwesentlich abweicht. (Vgl. Abr. Geiger, Urschrift und Übersetzungen der B. in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judentums, Bresl. 1857.) In der That stellt der Text, den unsere Drucke auf Grund der handschriftlichen Überlieferung darbieten, nur eine mittelalterliche Textrecension vor, wiewohl deren Wurzeln mindestens bis ins 2. Jahrh. v. Chr. zurückreichen. Man pflegt ihn den masoretischen Text zu nennen, weil seine richtige Überlieferung durch die Regeln der Masora (s. d.) gesichert wird. Der mittelalterliche Charakter der Textrecension gebt schon aus der Schrift hervor, in der uns der Text überliefert ist. Die Synagogen-Handschriften bieten bloß den Konsonantentext, in Privathandschriften und in Schulhandschriften ist diesem eine von einer zweiten Hand hinzugesetzte Vokalschrift beigegeben. (s. Hebräische Sprache.) Es ist nun nicht möglich, mit Hilfe der handschriftlichen Überlieferung über den von unsern Drucken gebotenen Text zurückzugelangen, nur in Kleinigkeiten der Vokalbezeichnung und Orthographie läßt er sich nach ihr korrigieren. Denn alle unsere hebr. Bibelhandschriften sind verhältnismäßig jung. Die älteste datierte ist der Petersburger Prophetencodex, der 916-917 n. Chr. geschrieben ist. Es erklärt sich dieser auffallende Umstand daraus, daß schadhaft gewordene Bibelhandschriften aus religiösen Gründen beseitigt zu werden pflegen. Dazu bieten alle unsere Handschriften mit sklavischer Genauigkeit denselben Text. Zwar unterscheidet man eine morgenländ. (babylonische) und abendländ. (palästinische) Textrecension und die Unterschiede beider sind überliefert, auch giebt es für die abendländ. zwei Punktationsweisen, die des Ben Ascher und die des Ben Naphthali. Aber hierbei handelt es sich lediglich um für den Sinn völlig belanglose Kleinigkeiten der Orthographie und Punktation. Daher muß geschlossen werden, daß alle unsere Handschrif-^[folgende Seite]