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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Bismarck (Otto Eduard Leopold, Fürst von)

Dennoch wäre es um des Unfehlbarkeitsdogmas willen allein nicht zum Kampfe gekommen, sondern in erster Linie der antinationalen Haltung der kath. Centrumspartei, die das Welfen- und Polentum begünstigte, schob B. die Schuld an dem Ausbruche des Streites zu. So folgte denn im Einverständnisse zwischen B. und dem größten Teile der Volksvertretung eine Maßregel nach der andern zur Bekämpfung der hierarchischen Übergriffe. Es wurden Gesetze erlassen über die Ausweisung der Jesuiten, die Vorbildung, staatliche Prüfung und Anstellung der Geistlichen, die Schulaufsicht, die Rechte der Altkatholiken, die Aufhebung der Klöster, die Civilehe u. s. w. Zum Teil hatte B. dem Vorgehen des Kultusministers Falk (s. d.) freilich nur mit schwerem Herzen und, wie er selbst sagte, durch die Notwehr gezwungen, zugestimmt, aber dann diesen Kampf mit Energie vertreten. «Nach Canossa gehen wir nicht», sagte B. 14. Mai 1872, als die Ernennung des national gesinnten Kardinals Hohenlohe (s. d.) zum Botschafter beim Vatikan von Pius Ⅸ. zurückgewiesen wurde. Fanatische Agitation und Aufregung wirkte auf die kath. Bevölkerung dergestalt, daß ein kath. Böttchergeselle, Kullmann, «um der Kirchengesetze willen» 13. Juli 1874 auf B. in Kissingen schoß; er verwundete ihn indes nur an der Hand. Zur Erinnerung daran wurde B. 1877 ein Denkmal in Kissingen (s. d.) gesetzt. So lange der von den Jesuiten beherrschte Papst Pius Ⅸ. lebte, war an keine Versöhnung zu denken. Aber sein Nachfolger Leo ⅩⅢ. (seit 1878) bekundete den Wunsch nach Herstellung des konfessionellen Friedens. So wurden wieder Verhandlungen mit der Kurie angeknüpft und mildernde Gesetze seit 1880 dem Landtage vorgelegt. Auch für B. wurde es immer dringenderes Bedürfnis, die Unterstützung wenigstens eines Teils der Centrumspartei für seine übrige innere Politik zu gewinnen, denn auch hier hatte es nicht an Hemmungen gefehlt.

Als im Frühjahr 1874 dem Reichstage ein Militärgesetz vorgelegt wurde, durch welches die Reichsregierung die Stärke des stehenden Heers ein für allemal festsetzen wollte, erhoben sich von neuem jene Bedenken, die dem preuß. Verfassungskonflikt so lange Nahrung gegeben hatten. B. trat mit allem Nachdrucke für die Regierungsforderung ein, und ein neuer Konflikt stand bevor, als B. heftig erkrankte und den Reichstagsverhandlungen fern bleiben mußte. Die grundsätzlich oppositionellen Parteien und ein Teil der Nationalliberalen wollten das Budgetrecht unter allen Umständen voll gewahrt sehen und verlangten jährliche Beratung des Militärbudgets. Nach mehrfachen Unterhandlungen zwischen dem Kaiser, B. und den Führern der nationalliberalen Partei des Reichstags gelang es, die Majorität für ein Kompromiß zu gewinnen, welches der Regierung ihre Forderung für die nächsten sieben Jahre bewilligte (das sog. Septennat).

Die Prozesse gegen den frühern Botschafter in Paris, Grafen Harry von Arnim (s. d.), seit 1874 zeigten, daß B. mit fester Entschlossenheit auf strenge Einheit der auswärtigen Politik hielt. B.s Versuch, sich allein auf die Leitung der Reichspolitik zu beschränken, mißglückte; das von ihm 21. Dez. 1872 dem Grafen Roon übergebene Ministerpräsidium übernahm er bereits 9. Nov. 1873 wieder. Nebenströmungen am Hofe brachten ihn 1877 dazu, um Entlassung vom Kanzlerposten zu bitten. Aber der Kaiser hielt an seinem ersten und besten Ratgeber fest und lehnte das Gesuch ab. Doch wurde dem überbürdeten Reichskanzler vom Kaiser und Reichstage ein Stellvertreter für sämtliche und einzelne Stellvertreter für die einzelnen Departements durch das Stellvertretungsgesetz von 1878 gewährt. Dagegen übernahm B. im Sept. 1880 zu seinen übrigen Ämtern auch die Leitung des preuß. Ministeriums für Handel und Gewerbe. Auf wirtschaftlichem Gebiete war das Ziel, das er jetzt mit warmem Eifer ins Auge faßte, dem Verkehr freiere Bahn zu sichern, dem Reiche die nötigen Gelder auf eine den Einzelnen möglichst wenig bedrückende Weise vor allem durch indirekte Steuern zu verschaffen, die für die einzelnen Staaten und Gemeinden unerträglichen Lasten auf das Reich zu übernehmen und den Arbeiterstand vor den Lockungen des Socialismus zu bewahren.

Diese neue Wirtschaftspolitik führte auch zu neuen Gruppierungen der Parteien. Während die Fortschrittspartei fast in allen Fragen eine geschlossene Opposition bildete, hatte B. jetzt auch an der nationalliberalen Partei, mit welcher seit 1879 («Sezession») die frühern nähern Beziehungen gelockert waren, keine feste Stütze, sodaß er sich nur auf die zwei konservativen Parteien ganz verlassen konnte. Dagegen fand er jetzt öfters die Unterstützung des Centrums, das in seinen rhein.-westfäl. Mitgliedern viele schutzzöllnerische Elemente enthielt. – B.s Projekt, sämtliche deutschen Eisenbahnen an das Reich zu bringen, scheiterte an dem Widerspruch der Einzelstaaten, weshalb er sich vorderhand damit begnügte, in Preußen das Staatsbahnensystem durchzuführen und möglichst viele Privatbahnen anzukaufen. Seinen weitern Plan, der eine Reform der Steuern und Zölle bezweckte, konnte er nur teilweise durchführen. Der von ihm 1879 vorgelegte Zolltarifentwurf wurde durch eine Koalition des Centrums und der Konservativen vom Reichstage 12. Juli genehmigt; aber für Einführung des Tabakmonopols fand er keine Mehrheit. Der von ihm 1881 für Preußen berufene Volkswirtschaftsrat wurde als unnötige Konkurrenz des Landtags und Reichstags angesehen. Nach dem Attentat auf den Kaiser 11. Mai 1878 legte B. dem Reichstage ein Socialistengesetz vor. Als dieses verworfen wurde und 2. Juni ein zweites Attentat folgte, wurde der Reichstag aufgelöst und der neugewählten Versammlung ein verbessertes Socialistengesetz vorgelegt, das 19. Okt. mit einigen Änderungen angenommen wurde und der Regierung die Macht zu strengern und nachhaltigern Maßregeln verschaffte. Seiner Aufforderung zum Anschluß an den Zollverein, von dem sich nur noch Hamburg und Bremen fern hielten, entsprach zuerst Hamburg durch Abschluß des Vertrags vom 26. Mai 1881; 1884 folgte Bremen.

Unbestritten waren B.s Erfolge in der äußern Politik. Sein Gedanke war, unter Wahrung der Ehre und Würde des Reichs den Frieden zu erhalten, dessen Deutschland für die Fülle seiner innern Aufgaben bedurfte. Die nächste Aufgabe war, die von ihm stets für Deutschland erwünschte Freundschaft mit Österreich wieder anzuknüpfen, die mit Rußland zu erhalten. Er erreichte im Sept. 1872 die Zusammenkunft der drei Kaiser von Deutschland, Rußland und Österreich in Berlin. Bei dem Ausbruch der orient. Krisis beteiligte er sich im Interesse der Humanität und des Friedens an den verschiedenen Konferenzen. Als der Russisch-Türkische Krieg begann und der Vertrag von San Stefano 1878 England in die Schranken gegen Rußland zu