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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Blutarmut

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Blutarmut

ist nur bei äußerlich zugänglichen Organen (Haut, Augen, Magen) von erheblichem Erfolge; doch auch auf Gehirn, Lunge und Unterleibsorgane vermag man noch durch äußere Anwendung der Kälte einzuwirken. Auch die hohe Lagerung der blutüberfüllten Teile dient vermöge der Schwere des Blutes zur Minderung der Hyperämie. Ist der B. durch übermäßige Herzthätigkeit veranlaßt, so sind kühle oder anderweite das Herz beruhigende Mittel anzuwenden; ist Hemmung des Blutlaufs in andern Organen (z. B. durch enge Halsbinden, Schnürleiber) die Ursache, so ist das Hemmnis womöglich zu beseitigen. (S. Hyperämie.)

Blutarmut oder Anämie, auch Oligämie, nennt man ebensowohl den abnorm geringen Blutgehalt eines Organs oder des ganzen Körpers als auch den abnorm geringen Gehalt des Blutes an festen, für die Ernährung wichtigen Stoffen, d. h. also die Wässerigkeit des Blutes (Hydrämie oder Oligocythämie). Eine Verminderung der normalen Blutmenge des ganzen Körpers kommt nur vorübergehend als akute Anämie nach starken Blutverlusten vor; sehr schnell nehmen die Blutgefäße an Stelle des verlorenen Blutes Wasser auf; die frühere Blutmenge wird dadurch zwar wiederhergestellt, aber das Blut ist nun ärmer an den ihm eigentümlichen Stoffen, d. h. an Blutkörperchen und Eiweißstoffen, dagegen reicher an Wasser. Ein ähnlicher Zustand kann sich ganz allmählich (chronische Anämie) entwickeln, wenn die Blutbereitung eine mangelhafte ist, insofern der Verlust, welchen das Blut durch die Ernährung des gesamten Körpers erleidet, nicht wieder ersetzt, somit das Blut allmählich verschlechtert und zur Ernährung des Körpers untauglich wird. Diese Art der B. entwickelt sich in allen schweren, fieberhaften Krankheiten; ferner bei chronischen Krankheiten einzelner, der Blutbereitung dienenden Organe, insbesondere der Verdauungswerkzeuge, der Milz und der Lymphdrüsen, der Lunge u. s. w.; weiterhin bei länger dauerndem Verluste von Säften, besonders von Eiweißstoffen, wie nach fortgesetztem Hungern und nach zu langem Säugen, nach rasch aufeinander folgenden Wochenbetten, nach größern Eiweißverlusten bei Nierenkrankheiten, chronischen Eiterungen u. s. w.; endlich immer dann, wenn durch schlechte Nahrung und schlechte Luft oder aber durch übermäßige körperliche und geistige Anstrengungen oder irgendwelche, den Organismus erschöpfende Ausschweifungen ein Mißverhältnis zwischen Verbrauch und Ersatz der Stoffe im Organismus eintritt. Daher sehen wir Rekonvalescenten, Magen- und Darmkranke, Lungenleidende, Skrofulöse, ferner die Bewohner dumpfer, finsterer Wohnungen, Gefangene, schlecht genährte und übermäßig geistig angestrengte, stubenhockende Kinder u. s. w. anämisch werden. Schwere Formen der B. werden endlich im Verlaufe gewisser chronischer Vergiftungen, namentlich der Arsen-, Blei- und Quecksilbervergiftung beobachtet. Man pflegt diejenigen Formen der B., welche auf einer Erkrankung oder mangelhaften Thätigkeit der blutbildenden Organe beruhen, als primäre oder essentielle Anämie zu bezeichnen, im Gegensatz zur sekundären Anämie, die infolge von Blut- und Säfteverlusten oder infolge von mangelhafter Nahrungszufuhr entsteht.

Die allgemein beobachtete Zunahme des Vorkommens der B. in unserer Zeit erklärt sich aus dem engen Zusammenwohnen der Menschen in den großen Städten, aus der Fabrikindustrie, der Zunahme des Proletariats, insbesondere aber aus den übermäßigen Ansprüchen, die man an die Kinder macht, sei es bei den ärmern Klassen in körperlicher, sei es bei den wohlhabendern in geistiger Arbeit; anderer Ursachen nicht zu gedenken, wie der vorzeitigen geschlechtlichen Entwicklung der Stadtkinder und der durch die Genußsucht und Lebenshast unsers Zeitalters bedingten allgemeinen Überreizung des Nervensystems. (S. Nervenschwäche.) Die Anämie verrät sich durch allgemeine Blässe und durchscheinende Beschaffenheit der Haut und Schleimhäute, was nicht ausschließt, daß die Wangen rot gefärbt sind oder daß die gewöhnliche Blässe bei jeder Aufregung einer starken Röte weicht; ferner durch Schwäche und Schlaffheit aller Funktionen, Verminderung der Temperatur, schnelle Ermüdung nach jeder körperlichen oder geistigen Anstrengung, Reizbarkeit des gesamten Nervensystems, daher häufige Schmerzen in verschiedenen Teilen (Kopfschmerzen, Brustschmerzen, Gesichtsschmerzen, Herzklopfen, Atembeschwerden, Schwindel u. dgl.). Die Heilung der B. ist nur möglich, wenn ihre Ursachen entfernt werden können, am ehesten also noch da, wo sie die Folge anderweiter heilbarer Krankheiten oder einer verkehrten Lebensweise ist. Vor allem ist für Herstellung einer guten Verdauung und einfache, aber nahrhafte Kost sowie für frische, reine Luft zu sorgen; kommt hierzu eine mäßige geregelte Thätigkeit des Körpers und Geistes, so wird die B. sich bald bessern, wenn sie überhaupt heilbar ist. Besonders ist nie zu vergessen, daß gute Luft und Licht zum Gedeihen des Körpers ebenso nötig sind als gute Kost. Zur Unterstützung der Kur pflegt man vielfach bittere Arzneimittel, insbesondere Chinin, und das Eisen mit Erfolg anzuwenden. Besondere Arten der B. sind die Bleichsucht (s. d.), bei welcher das Blut zwar den normalen Gehalt an Eiweißstoffen, aber zu wenig Blutkörperchen enthält, die Leukämie (s. d.), bei welcher die farblosen Blutkörperchen übermäßig zahlreich sind, und die sog. progressive perniciöse Anämie, eine noch rätselhafte Krankheit, welche auf dem Zerfall und Untergang zahlloser Blutkörperchen beruht und unaufhaltsam in kürzester Frist unter Fiebererscheinungen zum Tode führt. Vgl. Immermann, Allgemeine Ernährungsstörungen, in Ziemssens "Handbuch der Pathologie und Therapie", Bd. 13 (2. Aufl., Lpz. 1879); Pfaff, B. und Bleichsucht (ebd. 1870).

Unter lokaler Anämie versteht man die auf einen bestimmten Körperteil beschränkte Blutleere. Jeder Druck auf die Haut macht dieselbe vorübergehend blutarm und blaß; ebenso alles, was die Muskulatur der Arterien zur Zusammenziehung bringt oder diese das Blut zuführenden Gefäße sonstwie verengt. Daher bewirkt der Reiz der Kälte Anämie, jedoch nur auf einige Zeit, während nachher infolge der Erlahmung der Gefäßnerven und Gefäßmuskeln eine um so stärkere Blutfülle folgt. Schreck und Furcht wirken als Reiz auf die Nerven der Arterien des Gesichts, infolgedessen sie sich verengen und weniger Blut zu den Haargefäßen der Haut zulassen: daher das plötzliche Erblassen des Gesichts. Die lokale Anämie bewirkt Erkaltung des betroffenen Teils und Herabsetzung seiner Funktionen. Anämie der Haut wird daher als Kälte empfunden, Anämie der Drüsen bedingt Verminderung und Abänderung der Sekrete, Anämie des Gehirns Schwindel und Ohnmacht, Anämie der Muskeln