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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Bonaparte (Familie)

auszudehnen. Die Revolution gegen das fremde Regime zeigte sich unbesieglich, und die Engländer unter Wellington gewannen von Portugal aus immer mehr Boden. Nach der Niederlage bei Vittoria, 21. Juni 1813, verließ Joseph Spanien auf immer und zog sich auf sein Landgut Morfontaine zurück. Als der Kaiser im Dez. 1813 im Traktat von Valencay Ferdinand VII. als König von Spanien anerkannte, weigerte sich Joseph, seine Abdankung zu unterzeichnen, mußte jedoch bald nachgeben. Obwohl Napoleon Josephs Mangel an Thatkraft kannte, ernannte er ihn vor seiner Abreise von Paris im Jan. 1814 zum Generallieutenant des Reichs und Oberkommandanten der Nationalgarden. Bei Annäherung der Verbündeten erließ Joseph zwar 29. März eine energische Proklamation, ermächtigte aber 30. März die Marschälle, den Alliierten Kapitulationsanträge zu machen, und flüchtete nach Blois, wohin ihm Kaiserin Marie Luise 29. März vorangegangen war. Mit einem ihm zugesicherten Einkommen von 500 000 Frs. zog sich Joseph nach Napoleons Absetzung in das Waadtland zurück, wo er das Landgut Prangin kaufte, erschien aber 1815 in Paris als franz. Prinz und Präsident des Conseils. Nach der Schlacht von Waterloo folgte er seinem Bruder nach Rochefort, von wo aus beide sich nach Amerika begeben wollten. Erst als er den Entschluß seines Bruders, sich den Engländern zu ergeben, erfuhr, verließ er Frankreich und begab sich nach den Vereinigten Staaten. Im Besitz eines bedeutenden Vermögens, lebte er als Graf von Survilliers auf dem früher von Moreau bewohnten Landgute Point-Breeze am Delaware. In einer an die franz. Deputiertenkammer gerichteten Adresse vom 18. Sept. 1830 erhob er gegen die Thronbesteigung eines Bourbonen Einspruch zu Gunsten seines Neffen, des Herzogs von Reichstadt, dessen Rechte nach Napoleons I. Abdankung die Repräsentantenkammer anerkannt habe. Als dieser starb, reiste Joseph, der sich nun als nächsten Erben erklärte, 1832 nach London und hielt sich zur großen Besorgnis Ludwig Philipps in England auf. 1837 nach Amerika zurückgekehrt, erschien er 1839 wieder in England, bis er 1841 die Erlaubnis erhielt, nach Italien überzusiedeln, wo seine Gemahlin lebte. Joseph starb 28. Juli 1844 zu Florenz. Im Juni 1862 wurde sein Leichnam im Dom der Invaliden zu Paris beigesetzt. Es wird ihm ein Roman "Moina" (Par. 1799 u. 1814) zugeschrieben. Seine "Mémoires es correspondance politique et militaire" gab Du Casse heraus (10 Bde., Par. 1853-55: 2. Aufl. 1856-58); sie enthalten manches wertvolle histor. Material. Vgl. Abbott, History of Joseph B. (Neuyork 1869); Miot de Melito, Mémoires (3 Bde., 1788-1815); Du Casse, Les Rois frères de Napoléon I (Par. 1883). - Seine Gemahlin, Julie Marie Clary, geb. 26. Dez. 1777, Tochter des reichen Seidenhändlers Clary zu Marseille, Schwägerin Bernadottes (s. Karl XIV., König von Schweden), war eine einfache, anspruchslose, aber begabte Frau und wußte sich in ihren spätern Verhältnissen mit Würde zu benehmen. Sie ging nie nach Spanien, auch hielt sie sich als Königin nur wenige Wochen zu Neapel auf. Ihrer Gesundheit wegen vermochte sie nicht, ihrem Gemahl 1815 nach Amerika zu folgen. Sie wohnte einige Zeit zu Frankfurt, durfte sich dann zu Brüssel niederlassen, ging aber 1823 nach Florenz, wo sie 7. April 1845 starb. Sie hatte zwei Töchter: a. Zenaide Charlotte Julie, geb. 8. Juli 1801, die, an Lucian B.s ältesten Sohn, den Fürsten von Canino (s. unter 3), verheiratet, die Mutter einer zahlreichen Familie wurde und 8. Aug. 1854 zu Neapel starb; b. Charlotte Napoléone, geb. 31. Okt. 1802, die sich mit Napoleon Louis, dem zweiten Sohne des Exkönigs Ludwig B. (s. unter 5) vermählte und 3. März 1839 zu Sarzana starb.

2) Napoleon B., s. Napoleon I.

3) Lucian B., wegen seiner nicht standesmäßigen Ehe vom Kaiser nicht als franz. Prinz anerkannt, geb. 21. März 1775 zu Ajaccio, besuchte das Collège zu Autun, dann die Militärschule zu Brienne, endlich das Seminar zu Aix. 1792 kehrte er nach Corsica zurück, schloß sich Paoli (s.d.) an, brach aber mit diesem gleich seiner Familie und ging ihr voraus nach Marseille. Napoleons Glücksstern brachte ihm 1795 die Stellung eines Kriegskommissars, in der er in die Niederlande, dann nach Corsica (1798) ging, wo er in der Wahl der Mittel, sich zu bereichern, nicht ängstlich war. Im März 1798 in den Rat der Fünfhundert gewählt, gewann er bald bedeutenden Einfluß und bildete mit Joseph B. eine Parteigruppierung, die dem Direktorium entgegen und den ehrgeizigen Absichten seines Bruders vorarbeitete. Kurz vor dem 18. Brumaire (1799) zum Präsidenten des Rats der Fünfhundert gewählt, ward er der eigentliche Held dieses Tages. Als er die durch Napoleons Eintritt entstandene Gärung nicht zu dämpfen vermochte, verließ er seinen Sitz, setzte sich zu Pferde, sprengte an die Fronte der versammelten Truppen und forderte sie auf, ihren General, den man ermorden wolle, zu retten. Nach dem Staatsstreiche zum Minister des Innern ernannt, überwarf er sich bald mit Fouché, der selbst nach diesem Portefeuille strebte, und seinem Bruder. Ein völliger Bruch ward verhütet, indem Lucian das Ministerium niederlegte und als Gesandter im Nov. 1800 nach Madrid ging, wo er den engl. Einfluß beseitigte und zum Kriege mit Portugal trieb. Der für Frankreich ungünstige Friede zu Badajoz (29. Nov. 1801), zu dem er vorschnell die Hand bot, konnte das Verhältnis beider Brüder nicht bessern. Lucian gab daher seine Stellung auf und ging nach Paris. Hier 9. März 1802 ins Tribunat berufen, vertrat er den Plan zur Errichtung der Ehrenlegion, deren Großoffizier er wurde, und erwarb sich die Gunst des Papstes Pius VII. durch Befürwortung des Konkordats. Als Lucian nach dem Tode seiner ersten Gattin (s. unten) die ihm vom Kaiser zugedachte verwitwete Königin von Etrurien ausschlug und gegen dessen Willen eine bürgerliche Ehe einging, führte dies zum völligen Bruch mit Napoleon. Lucian zog sich auf eine Villa bei Rom zurück, um den Künsten und Wissenschaften zu leben (April 1804). Vergebens bot ihm 1807 der Kaiser den Thron von Spanien an, indem er Trennung von seiner Gattin verlangte. Ebenso verweigerte Lucian seine Zustimmung zu der Verheiratung seiner Tochter mit dem Prinzen von Asturien. Napoleon wurde dadurch so erbittert, daß jener den Plan faßte, sich nach Nordamerika in Sicherheit zu bringen. Er schiffte sich 1. Aug. 1810 zu Civita-Vecchia ein, wurde jedoch durch einen Sturm genötigt, in Cagliari einzulaufen. Hier von brit. Kreuzern angehalten, ward er nach England gebracht und zum Kriegsgefangenen erklärt. Napoleons Sturz gab ihm seine Freiheit; er ging wieder nach Rom, wo ihn der Papst 1814 mit dem von ihm erkauften kleinen Fürstentum Canino belehnte. Nach Napoleons Rückkehr von Elba 1815 begab sich Lucian nach Paris und trat