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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Bonaparte (Familie)

in die Pairskammer ein. Nach der Niederlage von Waterloo behielt er allein seine Besonnenheit und riet seinem Bruder, die Kammern aufzulösen und als Diktator an die Spitze zu treten. Nachdem Napoleon abgedankt hatte, versuchte er, den König von Rom zum Kaiser ausrufen zu lassen, um für sich die Regentschaft zu erlangen, konnte indes nicht durchdringen. Nach der zweiten Thronbesteigung Ludwigs XVIII. wollte er nach Rom zurückkehren, ward aber auf Befehl des österr. Generals Graf Bubna in Turin festgenommen und interniert. Die Fürsprache des Papstes befreite ihn, doch mußte sich dieser verbürgen, weder Lucian noch ein Glied seiner Familie aus dem Kirchenstaate wegzulassen. Nach den Ereignissen von 1830 wurde dieser Bann aufgehoben, und Lucian ging 1832 zu Joseph nach England, von wo er 1838 auch Deutschland besuchte. Später kehrte er nach Italien zurück und starb 29. Juni 1840 zu Viterbo. Nächst Napoleon war Lucian das begabteste Glied der Familie B. Nicht ohne Ruhmbegier, setzte er seinen Ehrgeiz hauptsächlich darein, sich seinem Bruder gegenüber in Unabhängigkeit zu behaupten. Durch die von ihm veranstalteten Ausgrabungen erwarb er sich um die Altertumskunde Toscanas besondere Verdienste. Weniger glücklich war er als Dichter und Schriftsteller. Zuerst trat er mit einem Roman "La tribu indienne, ou Édouard et Stellina" (2 Bde., Par. 1799; deutsch, Münch. 1812) auf. 1801 schrieb er eine "Parallele zwischen Cäsar, Cromwell und B.", voll Schmeicheleien für Napoleon, den er dadurch zur Nachsicht mit seinen amtlichen Unregelmäßigkeiten und seiner sittenlosen Lebensführung stimmen wollte.

Während des ersten Aufenthalts in London schrieb er das mittelmäßige Heldengedicht "Charlemagne ou l'Eglise délivrée" (2 Bde., Lond. 1814. Par. 1815), das gegen seinen Bruder eiferte und die Bourbonen erhob. Später gab er ein Heldengedicht in 12 Gesängen heraus: "La Cyrnéide ou la Corse sauvée" (Par. 1819), worin er die Vertreibung der Saracenen aus Corsica besang. Von seinen "Mémoires" erschien 1836 ein Band (deutsch, Darmst. 1836), der bis zum J. VII der Republik reichte. 1845 gab die Witwe ein weiteres Bruchstück über den 18. Brumaire heraus, das übrige erst 1882 Oberst Jung: "Lucien B. et ses mémoires 1775-1840" (3 Bde., Par. 1882-83). Die "Mémoires secrets sur la vie privée, politique et littéraire de Lucien B." (2 Bde., Lond. 1819), nicht überall zuverlässig, sollen von Alphonse de Beauchamp (s. d.) verfaßt sein.

Lucian war Vater einer zahlreichen Familie; 1794 hatte er sich mit Christine Eleonore Boyer, einer Bürgerstochter aus St. Maximin, verheiratet, und nach deren Tode (14. Mai 1801) schloß er 1803 eine zweite Ehe mit der schönen, aber nicht günstig beleumundeten Witwe des Wechselagenten Jouberthon, Alexandrine Laurence de Bleschamp, geb. 10. April 1778 zu Calais, gest. 12. Juli 1855 zu Sinigaglia. Aus erster Ehe gingen hervor: a. Charlotte, geb. 13. Mai 1796, die sich 27. Dez. 1815 zu Rom mit Fürst Mario Gabrielli (gest. 18. Sept. 1841) vermählte, in dieser Ehe einen Sohn und drei Töchter gebar, 1842 die Gattin des röm. Arztes Centamori wurde und 8. Mai 1865 zu Paris starb; b. Christine Egypte, geb. 19. Okt. 1798, 1818 mit dem schwed. Grafen Arved Posse, 1824 mit Lord Dudley Stuart vermählt, gest. 19. Mai 1847 zu Rom. Aus Lucians zweiter Ehe stammten fünf Söhne und vier Töchter, nämlich:

a. Charles Lucien Jules Laurent B., Fürst von Canino und Musignano, geb. 24. Mai 1803 vor der Vermählung der Eltern. Er studierte auf ital. Universitäten und begab sich, nachdem er 1822 seine Cousine Zenaïde (s. unter 1) geheiratet hatte, zu seinem Oheim nach Amerika. Hier widmete er sich naturwissenschaftlichen Arbeiten und veröffentlichte die "American ornithology" (3 Bde., Philad. 1825 fg.). Nach Italien zurückgekehrt, schrieb er: "Sulla seconda edizione del regno animale di Cuvier" (Bologna 1830), "Saggio di una distribuzione metodica degli animali vertebrati" (Rom 1831) und insbesondere eine "Iconografia della Fauna italica" (3 Bde., ebd. 1833). 1840 wurde er nach dem Tode seines Vaters Fürst von Canino; 1848 trat er mit Cernuschi, Sterbini u. a. an die Spitze der Radikalen, wurde in die röm. Constituante gewählt und deren Vicepräsident. Nach dem Einmarsch der Franzosen flüchtete er nach Paris, wo er, zu seinen Studien zurückkehrend, einen "Conspectus system. masto-zoologiae, ornithologiae etc." (Leid. 1850) und einen "Conspectus generum avium" (2 Bde.. ebd. 1851-57) veröffentlichte und 29. Juli 1857 starb. Er hatte acht Kinder: 1) Joseph, geb. 31. Jan. 1824 zu Philadelphia, polit. Gegner seines Vaters zu Rom, wo er 2. Sept. 1865 starb: 2) Lucian, geb. 15. Nov. 1828 zu Rom, trat 1853 in den geistlichen Stand und wurde 1868 Kardinal; 3) Julie, geb. 6. Juni 1830, heiratete 1847 Alessandro Marquis del Gallo-Roccagiovine; 4) Charlotte, geb. 4. März 1832, heiratete 1848 den Grafen Peter Primoli, verwitwet seit 1883; 5) Marie, geb. 18. März 1835, heiratete 1851 den Grafen Paul Campello und starb Aug. 1890; 6) Auguste, geb. 9. Nov. 1836, heiratete Fürst Placido Gabrielli; 7) Napoleon, geb. 5. Febr. 1839 zu Rom, war franz. Offizier in Algier und Mexiko, vermählte sich 1868 mit der Fürstin Christine Ruspoli (zwei Töchter); 8) Mathilde, geb. 26. Nov. 1840, heiratete 1856 Graf Cambacérès, starb 4. Juni 1861.

b. Lätitia B., geb. 1. Dez. 1804, heiratete 1821 den Irländer Thomas Wyse (gest. 15. April 1862 als brit. Gesandter zu Athen), der sich jedoch ihres sittenlosen Lebenswandels halber von ihr trennte. Sie befreite ihren geisteskranken Sohn Alfred aus einem Irrenhause bei Nancy, wohin ihn der Vater gebracht hatte, eine That, die d'Arlincourt in dem Roman "Le Pèlerin" (2 Bde., Par. 1843) behandelt, und starb 15. März 1871 zu Florenz.

c. Jeanne B., geb. 22. Juli 1807 zu Rom, heiratete den Marchese Honorati und starb, eine Tochter, Clelia, hinterlassend, 1828 zu Jesi bei Ancona. Sie war eine hervorragend schöne, liebenswürdige und geistvolle Frau. Aus ihrem Nachlaß veröffentlichte ihre Mutter Gedichte: "Inspirazioni d'affetto di una giovine musa".

d. Paul Marie B., geb. 1808 zu Rom, nahm 1827 am griech. Befreiungskriege teil und bewies als Unterkommandant auf der Fregatte Hellas großen Mut. Als Cochrane Ende Dez. 1827 im Hafen von Nauplia zwei türk. Schiffe angreifen wollte, eilte B. in die Kajüte, um sich zu bewaffnen, tötete sich aber dabei selbst unversehens durch einen Pistolenschuß.

e. Louis Lucien B., geb. 4. Jan. 1813 zu Thorngrove in Worcester während der Gefangenschaft des Vaters in England, that sich durch sprachwissenschaftliche Werke hervor und ließ, außer verschiedenen verdienstlichen Beiträgen zur Kenntnis der Baskischen Sprache (s. d.) ein "Specimen lexici com-^[folgende Seite]