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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Byron (George Noel Gordon, Lord)

unglücklich. Sein Vater verschwendete fast das ganze Vermögen der Mutter, verließ sie und den Sohn und starb 1791 in Valenciennes. Die Mutter, eine stolze Frau von leidenschaftlichem Temperament, ging 1790 mit ihrem Sohn nach Aberdeen, wo sie von dem Rest ihres Vermögens zurückgezogen lebte. Die Erziehung durch die launenhafte Mutter war wenig geeignet, in den Knabenjahren einen festen Grund für die spätere Entwicklung zu legen. Acht Jahre alt, wurde er zur Stärkung der Gesundheit in die Hochlande geschickt. In jenen romantischen Gegenden erwachte in ihm der Sinn für die Natur, der alle seine Dichtungen durchzieht. 1798 machte der Tod seines Großonkels Lord B. dem Aufenthalt in Schottland ein Ende. B. kam dadurch in Besitz des Titels und der Stammgüter seiner Familie und nahm Wohnsitz auf dem Schlosse Newstead-Abbey. Nun wurde seine Erziehung durch seinen Vormund, den Grafen von Carlisle, geleitet. Nach einem kürzern Aufenthalt in London, wo man umsonst die Heilung seines Klumpfußes versuchte, und nach dem Besuch einer vorbereitenden Schule in Dulwich kam B. 1801 auf die Schule zu Harrow. Noch während er den gewöhnlichen Kursus durchmachte, faßte er, in den Sommerferien 1803, eine glühende, unerwiderte Neigung für Mary Chaworth, deren Eltern ein Landgut in der Nähe von Newstead-Abbey besaßen. Okt. 1805 bezog B. die Universität Cambridge, wo er mit Unterbrechung bis 1808 blieb. Noch als Student gab er «Hours of idleness» (Newark 1807) heraus, die in der «Edinburgh Review » durch den nachmaligen Lord Brougham eine bittere Kritik erfuhren, gegen die B. die geharnischte Satire «English bards and Scotch reviewers» richtete, in der sein Talent zuerst erglänzte, worin er aber Scotts «Marmion» einer unverdienten Kritik unterzog. 1809 volljährig, nahm er im März seinen Sitz im Oberhause ein, wo er sich der Opposition anschloß. Doch besuchte er es nur selten, und seine drei Reden waren unbedeutend. Reich, schön, im Vollgenuß jugendlicher Kraft, stürzte er sich in Zerstreuungen und Ausschweifungen, die seine Gesundheit und sein Vermögen schwächten. Juni 1809 trat er mit seinem Freunde Hobhouse eine große Reise an. Über Portugal und Spanien fuhr er nach Malta, durchzog einen großen Teil Griechenlands und Kleinasiens, machte das Wagestück den Hellespont zu durchschwimmen, besuchte Konstantinopel und kehrte, nach längerm Aufenthalt in Athen, auf demselben Wege im Juli 1811 zurück. Im Febr. 1812 erschienen die auf der Reise vollendeten beiden ersten Gesänge von «Childe Harold’s pilgrimage», die ihn auf die Höhe des Dichterruhms hoben. Die Bewunderung steigerte sich durch die Teilnahme für seine Persönlichkeit, deren Spiegelbild man in seinen Helden fand. B. ließ schnell die erzählenden Gedichte «The Giaur», «The bride of Abydos» (frei verdeutscht von Kley, Halle 1884), «’The Corsair», «Lara», «Parisina», «The siege of Corinth» u. a. folgen, die seinen Ruhm erhöhten. Am 2. Jan. 1815 vermählte er sich mit Anna Isabella Milbanke. Die Ehe war jedoch unglücklich und schon im Febr. 1816 verließ Lady B. (s. unten) den Gatten. Die Folge war ein Umschwung der öffentlichen Meinung gegen B. Entrüstet über B.s Lebenswandel sprach die engl. Gesellschaft, ohne ihn gehört zu haben, das Verdammungsurteil über ihn aus, und B., der heimatlichen Zustände überdrüssig, verließ im April 1816 England, das er nicht wiedersah.

Durch die Niederlande und am Rhein aufwärts zog er in die Schweiz, wo er sich im Juni am Genfersee bei dem Ehepaar Shelley (s. d.) niederließ. Der Beschreibung dieser Reise und Italiens sind die beiden letzten Gesänge des «Childe Harold» gewidmet. Er lebte seitdem, unausgesetzt dichterisch thätig, am Genfersee und in verschiedenen Städten Oberitaliens. In Venedig (1819) und Ravenna (1820) trat er zur schönen Gräfin Teresa Guiccioli in ein vertrautes Verhältnis (vgl. Rabbe, Les maitresses authentiques de Lord B., 1890). Als deren Vater und Brüder, die Grafen Gamba, als Carbonari aus Ravenna verbannt wurden, nahm B. die Familie in seinen Schutz und ging mit ihr nach Pisa (1821), wohin ihm die Gräfin, die sich von ihrem Gemahl getrennt hatte, folgte. Als die Gamba auch hier nicht geduldet wurden, führte sie B. nach Genua, wo sie lebten, bis ihn (Juli 1823) der Freiheitskampf in Griechenland fortzog. Nach längerm Aufenthalt in Kephallonia kam er im Jan. 1824 in Mesolongion (Missolunghi) an, bildete auf eigene Kosten eine Brigade von 500 Sulioten und traf Anstalten zu einer Unternehmung gegen Lepanto. Noch schwach von einem epileptischen Anfall, zog er sich durch einen Ritt bei Regenwetter ein Fieber zu und starb 19. April 1824 in Mesolongion, wo man ihm ein Mausoleum weihte. Ganz Griechenland trauerte um ihn 21 Tage. Graf Pietro Gamba, der B. nach Griechenland gefolgt war, führte die Leiche nach England, wo sie, da das Begräbnis in der Westminsterabtei verweigert ward, in der Dorfkirche von Hucknall bei Newstead-Abbey beigesetzt wurde. Eine Bronzestatue B.s steht seit 1879 am östl. Eingange zum Hyde Park in London.

Nach B.s zweiter Abreise aus England erschienen die beiden letzten Gesänge des «Childe Harold» (1816‒18; das ganze Gedicht hg. und erklärt von Aug. Mommsen, Berl. 1885), «The prisoner of Chillon» (1816), das dramat. Gedicht «Manfred» (1817; vgl. Rötscher, Über B.s Manfred, Berl. 1844; Anton, B.s Manfred, Erfurt 1875), «The Lament of Tasso» (1817), die venet. Novelle «Beppo» (1818), die Erzählung «Mazeppa» (1819), die dramat. Dichtungen «Marino Faliero» (deutsch bearbeitet von Fitger, Oldenb. 1886), «The two Foscari», «Cain», «Sardanapalus», «Heaven and Earth», «The deformed transformed» und «Werner» (1820‒22), «Don Juan» (1821‒23), «The Island» (1823) und kleinere Gedichte. Auch unternahm er 1822 mit Leigh Hunt und Shelley die Herausgabe einer periodischen Schrift «The Liberal», die dem Verleger in England eine Anklage zuzog.

Über B.s Rang als Dichter ist, besonders in England, um so mehr gestritten worden, je verschiedener man ihn als Menschen beurteilte. Unleugbar war sein Einfluß auf die moderne Dichtung von welthistor. Bedeutung. Zu einer Zeit, wo sich in ganz Europa die Litteratur der Romantik des Mittelalters zuneigte, trat er als Vertreter der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden auf und gab allen Klängen des Spotts und des Hasses, des Zweifels und der Verzweiflung, jedem Zwiespalt von Leben und Natur so erschütternd Ausdruck, wie keiner vor ihm. So weckte er in dem heranwachsenden Geschlechte jene ideale Gärung, die als Weltschmerz lange fortdauert, und deren Wirkung fast alle hochherzigen Charaktere der Zeit kennzeichnet. Als wesentlich bleiben seiner Dichtung der Sturm und Drang, der Freiheitsdurst und die Weltverachtung