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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Darwinismus

vielfältigung derselben, treten unter bestimmte Gesichtspunkte, und es wird dem Forscher möglich, in denselben Regeln und Gesetze zu finden.

Bei Musterung der sehr ausgedehnten Kritik, welche Darwins Lehre gefunden hat, scheint es nützlich, von jenen principiellen Gegnern und Verteidigern derselben abzusehen, welche, meist ohne der Sache selbst näher getreten zu sein, Partei ergriffen, weil die neue Lehre ihrem religiösen Standpunkte zuwider oder weil sie der materialistischen Auffassung bequem schien. Was die Stimmen der Naturforscher anlangt, so stehen diejenigen Anatomen, Zoologen und Botaniker, welche im Sinne der modernen Wissenschaft ihre Studien betreiben, jetzt wohl alle auf seiten Darwins; geteilter sind die Ansichten der Geologen, unter welchen als Darwin zuneigend Lyell ("Principles of geology", 12. Aufl., Lond. 1876) zu nennen ist.

Einer der bedeutendsten Anhänger, wenn auch in einzelnen Fragen von Darwin abweichend, ist Huxley. Nach der Meinung des ältern Milne-Edwards ist die Descendenztheorie jeder sonstigen einschlagenden Hypothese vorzuziehen. Doch steht Milne-Edwards an, alle Umänderungen mit Darwin durch die unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen sich vollziehende natürliche Zuchtwahl erklären zu können. Auch Owen weicht darin ab, daß er die neuen Arten nicht durch Häufung kleiner Abänderungen und in unmerklichen Übergängen, sondern plötzlich und sprungweise sich bilden läßt. Von deutschen Anhängern ist vor allen Haeckel zu nennen, welcher Darwins Lehre durch zwei umfängliche Werke ("Generelle Morphologie der Organismen", 2 Bde., Berl. 1866, und "Natürliche Schöpfungsgeschichte", 8. Aufl., ebd. 1889) näher zu begründen suchte und insbesondere auch den monophyletischen Stammbaum der Pflanzen, Protisten und Tiere von den paläontol. Zeiten bis zur Gegenwart im einzelnen entworfen hat. Viel beanstandet ist die neuerdings von Haeckel aufgestellte Gasträatheorie, die eine durchgreifende Homologie der Keimblätter durch die ganze Tierreihe und eine gemeinsame Abstammung aller mehrzelligen Tiere von einer einzigen unbekannten Stammform (Gasträa) annimmt, einem einfachen, aus zwei Zellschichten (Blättern) gebildeten magenartigen Tierkörper, entsprechend der Gastrulaform, die als Jugendzustand zahlreicher Wirbellosen sowie eines Wirbeltiers, des Amphioxus, vorkommt. Mit großer Entschiedenheit und umfangreichem Wissen ist K. Vogt für die Darwinsche Lehre und ihre letzten Konsequenzen aufgetreten, in den Mikrokephalen (einer pathol. Menschenform, welche er als Affenmenschen bezeichnet und deren Bildung er als atavistischen Rückschlag auffaßt) ein Zwischenglied zwischen dem Menschen und seinen tierischen Ahnen suchend. Von den zahlreichen Autoren, welche die Darwinsche Lehre durch theoretische Erörterungen, wie durch Forschungen gestützt haben, im einzelnen von Darwin mehr oder weniger abweichend, sind ferner hervorzuheben: Karl Ernst von Baer, Rudolf Leuckart, Virchow, Kölliker, Gegenbaur, M. Wagner ("Die Entstehung der Arten durch räumliche Sonderung", 1889), Fritz Müller, Claus, Seidlitz, Weismann, die Gebrüder Hertwig u. a. m. Ein beachtenswerter Vertreter der Descendenzlehre war auch Oskar Schmidt, der in einer vorzüglichen Darstellung ("Descendenzlehre und D.", 3. Aufl., Lpz. 1884, Bd. 2 der "Internationalen wissenschaftlichen Bibliothek") nachweist, daß die Thatsachen des biogenetischen Grundgesetzes sowie die geogr. Verbreitung der Organismen durchaus mit der durch die Descendenztheorie geforderten Anordnung übereinstimmen.

Zu den heftigsten Gegnern Darwins zählte der ältere Agassiz ("Essay on classification", Lond. 1859; "Der Schöpfungsplan", deutsch von Giebel, Lpz. 1875). Was Agassiz dagegen bietet, ist die Behauptung absoluter Unveränderlichkeit der Arten; jede Species ist ursprünglich und für sich erschaffen, doch nicht als reifes Tier, sondern als Ei. Ein anderer Gegner, Nägeli ("Entstehung und Begriff der naturhistor. Art", 2. Aufl., Münch. 1865, und "Mechan.-physiol. Theorie der Abstammungslehre", ebd. 1884), sucht an die stelle der Darwinschen Nützlichkeitstheorie eine Vervollkommnungstheorie zu setzen. Auch Nägeli nimmt eine mehr sprungweise als unmerkliche Weiterentwicklung an und sucht das Fortbestehen niederer Arten neben höhern durch Annahme beständig stattfindender Urzeugung zu erklären. Das Nebeneinanderbestehen niederer und höherer Formen hat bei verschiedenen Forschern Bedenken erregt; Bischoff fragt geradezu, wie es komme, daß der Mensch, da alle frühern Organismen doch unvollkommener seien als er, im Kampfe um das Dasein nicht allein übriggeblieben sei? Aber sehr verschieden hoch organisierte Geschöpfe sind jedes für das ihm zugefallene Medium gleich hoch und gleich vollkommen organisiert, und auch noch aus dem scheinbar ganz gleichen Boden nehmen die verschiedenen Formen jede das für sich, was für sie paßt. Auch hat Darwin nicht ein durchgreifendes Variieren aller Descendenten, sondern neben der Variationsfähigkeit das Beharrungsvermögen, die Erblichkeit, ausgesprochen, ja die Vererbung als die Regel bezeichnet. Man hat ferner eingeworfen, daß kultivierte Pflanzen, in die Wildnis zurückversetzt, ausarten und alsbald auf die ursprüngliche Form zurückfallen, die von der ursprünglichen Form ganz abweichenden Rassen der Haustaube nach wenigen verwilderten Generationen jener wieder völlig gleich werden, und hierdurch erweisen wollen, daß in der freien Natur alle Lebewesen unveränderlich, Abänderungen nur durch Menschenhand erzeugte Kunstprodukts seien, als ob irgend ein menschliches Thun und Lassen außerhalb der Natur stehen könnte und nicht von den allgemein gültigen Naturgesetzen beherrscht sein müßte. Jene Rückbildung ist, soweit sie erfolgt, nur eine Konsequenz desselben Gesetzes, nach dem die Körperformen überhaupt bildsam sind und äußern Einwirkungen (gleichviel, ob diese durch den Willen des Menschen oder durch das Leben in der freien Natur gesetzt sind) sich anpassen müssen. Keineswegs in Widerspruch hiermit steht, daß wohlbefestigte Formen Jahrtausende hindurch sich unverändert erhalten können (Tier- und Pflanzenreste der Pfahlbauten), eine Thatsache, durch welche man die Existenz jeder natürlichen Züchtung widerlegen wollte.

Allen Einwürfen, welche der Darwinschen Theorie gemacht worden sind, gegenüber wird man behaupten dürfen, daß, wenn auch noch keineswegs alle einzelnen Erscheinungen sich ungezwungen nach der Darwinschen Theorie sofort erklären lassen, ein eigentlicher Widerspruch doch nirgends vorhanden ist. Sieht man, daß Variationen der Tierkörper überhaupt vorkommen, ja daß innerhalb des sehr engen Kreises des bereits Beobachteten die Breite