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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

ständlich war; Goethes "Faust" wird geradezu ein geistiges Banner, um das die staatlich zerrissenen Deutschen in Liebe und Stolz sich scharen. Der märkische Baron de la Motte-Fouqué beschwört in Dramen und Romanen mit unermüdlichem Eifer urdeutsche Heldengestalten aus dem Grabe; der junge Schwabe Uhland debütiert mit Romanzen im Tone des Volksliedes; Arnim und Brentano steigen von Erneuerungen älterer deutscher Werke zu eigenen prächtigen Erzählungen auf, die freilich neben gesunden alter- und volkstümlichen Elementen verzerrt spukhafte Partien oft allzu reichlich aufweisen. Görres schreibt ein Buch über die deutschen Volksbücher; die Brüder Grimm sammeln und erzählen im schlichtesten treuherzigsten Tone ihre "Kinder- und Hausmärchen" (1812). Die gesteigerte Liebe zur deutschen Art stärkt den Willen und die Kraft, sie vor dem Fremdling zu schützen. In dem von Franzosen besetzten Berlin hält Fichte 1808 seine zur That treibenden, von patriotischem Feuer durchloderten "Reden an die deutsche Nation"; Ernst Moritz Arndt schlägt den rechten Ton an für wuchtige volksmäßige Prosapamphlete; der unglückliche Heinrich von Kleist (1776-1811), vielleicht unser größter Dramatiker, dazu ein ausgezeichneter knapper Novellist von packender Anschaulichkeit und Belebtheit, geht nicht auf in der süßen romantischen Traumseligkeit seines "Käthchen von Heilbronn"; er verherrlicht als der Erste die sittliche Macht der Disciplin, die im preuß. Staate lebt, durch seinen "Prinzen von Homburg" und weiß in der "Hermannsschlacht", in polit. Liedern Laute des wildesten Hasses gegen die Vaterlandsfeinde zu finden. Diesem melancholischen Genius, der an dem Elend des Vaterlandes unverstanden mit zu Grunde ging, war es nicht beschieden, die nationale Erhebung zu erleben. Aber sie trat ein: das abgelebte Preußen der Aufklärung verjüngt sich durch den Kantschen Pflichtbegriff und die Einkehr in die deutsche Vergangenheit, wie die Romantik sie lehrte; die leidenschaftlichen, nur etwas zu künstlichen "Geharnischten Sonette" Friedr. Rückerts, die begeisterten Schlachtlieder Arndts, Schenkendorfs, Körners, die Wehrmannslieder des Österreichers Jos. von Collin erklingen zu den Siegen der Freiheitskriege. Höchst betroffen sieht Goethe, wie das aufbäumende Nationalgefühl seines Volks den großen Corsen aus dem Sattel wirft; leider urteilte er richtig, wenn er die polit. Folgen der Befreiungskämpfe nicht eben hoch anschlug. Alles kehrte ermüdet ins alte Gleis zurück. Daß sie die vollkommene Reaktion beförderte, lag völlig im Wesen der Romantik; wie gedieh in ihrer Sphäre die Lust zum kath. Konvertitentum, dem von Friedr. Schlegel bis zu dem begabt tollen Dramatiker Zach. Werner, dem Dichter Luthers, eine Reihe der angesehensten Romantiker anheimfiel! Hallen aus der burschenschaftlichen Bewegung vereinzelte lyrische Klänge des finstern polit. Fanatismus hervor (die Brüder Follen), so bleiben sie doch vorerst ganz isoliert, und die Demagogenhetze, die auf das Wartburgfest und Kotzebues Ermordung antwortete, bringt jede polit. Poesie zu tiefem Schweigen.

Die Zeit der polit. Abspannung, die den Freiheitskriegen folgt, ward eine Epoche ruhiger Sammlung, der Wissenschaft und Kunst nicht ungünstig. Zumal die histor.-philol. Wissenschaften gedeihen in dem durch die Romantik bereiteten Boden zur höchsten Blüte. Das von den Schlegeln angebahnte Sanskritstudium, die von W. von Humboldt geistvoll geförderte Sprachwissenschaft findet bald in Franz Bopp einen bahnbrechenden Meister. Die Wissenschaft der deutschen Sprache und Litteratur wird von den Brüdern Grimm so recht aus dem volkstümlich vaterländischen Sinne der Romantik heraus begründet. Karl Lachmann, der Jugendfreund des romantischen Epikers Ernst Schulze, bringt die philol. Kritik zur höchsten Schärfe und Sicherheit. Aug. Böckh versenkt sich in die klassische Altertumswissenschaft. Savigny wird der Vater der histor. Rechtswissenschaft. Niebuhr macht mit der Kritik der geschichtlichen Überlieferung rücksichtslos Ernst und überholt schnell die mehr kompilatorische Thätigkeit früherer Historiker, wie des in Gelehrsamkeit und Darstellungsgabe hochbedeutenden, aber menschlich schwachen Johannes von Müller. Daß die mystischen Neigungen der Romantik auch in der Wissenschaft hervorbrechen, machte sich minder in den mytholog. Verirrungen Creuzers und Kannes als vor allem in den wüsten naturphilos. Spekulationen (z. B. von Steffens und Oken) fühlbar, die eine Zeit lang das Gedeihen gesunder Naturwissenschaft geradezu hemmten. Doch auch das währte nicht lange: an den Namen A. von Humboldts knüpft sich auf diesem Gebiete gleichfalls starker Aufschwung in Forschung und schriftstellerischer Gestaltung. Mit reger Teilnahme jeden Fortschritt verfolgend, steht Goethe mitteninne in dieser gewaltigen wissenschaftlichen Entwicklung. Seine köstliche Selbstbiographie "Dichtung und Wahrheit" (1811 fg.) ist geradezu die erste auf die Quellen geschichtlich eingehende Analyse einer künstlerischen Persönlichkeit und steht damit ebenso wegweisend in den Anfängen unserer Litteraturwissenschaft, wie sie ein Muster ruhiger geschichtlicher Prosa giebt. Nur zur romantischen Philosophie fehlte Goethe ein näheres Verhältnis: wie schon früher Kant, so waren die drei nacheinander an der recht eigentlich aus der patriotischen Erregung der Romantik hervorgewachsenen Universität Berlin regierenden philos. Machthaber Fichte, Schelling, Hegel ihm zu abstrakt, als daß er ihnen tiefere Wirkungen gestattet hätte. Um so stärker wirkten sie auf andere, zumal Hegel, dessen scheinbar fest geschlossenes System trotz seiner äußerst schwierigen Kunstsprache sich weithin unbedingte Anhänger erwarb und dessen dem preuß. Staat auf den Leib geschnittene Staatslehre zeitweilig eine polit. Macht war.

Diesem bis heute fortwirkenden Aufschwung der Wissenschaft steht ein gleichwertiger Fortschritt der Dichtung seit den Freiheitskriegen nicht mehr zur Seite. In den Ausläufern der Romantik, wie dem genialen Stilisten E. T. A. Hoffmann, dessen vielgelesene Erzählungen eine gespenstische Welt mit der nüchternsten Realität in bald verschwimmenden, bald grellen Übergängen verquicken, dominieren die mystisch-phantastischen Ausschreitungen allzusehr über das berechtigt Symbolische hinaus; diese Extravaganzen machen die in Schillerschem Pathos oft höchst effektvoll gedachten Dramen des bizarren Zach. Werner auf der Bühne zumal ungenießbar. Sein bekannter "Vierundzwanzigster Februar" (1809) mit seinen gesuchten Greueln eröffnet die Reihe der eigentlichen Schicksalsdramen, die, halb mißverständlich angelehnt an griech. Muster wie den "König Ödipus" des Sophokles, durch Schillers "Braut von Messina" weiter vorbereitet, in den Händen Müllners, Houwalds u. a. bald zur Karikatur ausarteten. Zu dieser Richtung gehörte der Erstling des