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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

jungen Österreichers Franz Grillparzer (1791-1872), eines lange nur wenig beachteten, erst neuerdings zu voller Würdigung gelangten vornehmen und hohen Dichters, dessen Dramen Goethes seelische Vertiefung mit Kleists realistischer Belebtheit verbinden, charakteristisch sind, aber maßvoll, dabei von keuschem herbem Reize. Mit ihm tritt Österreich endlich wieder kräftig in das Leben unserer Litteratur ein. Grillparzers Weltanschauung, der ein stilles zufriedenes Herz das Höchste ist, spiegelt die müde, quietistische, unter dem starken polit. Drucke großgezogene Gleichgültigkeit des damaligen Österreichers bezeichnend wieder.

Gedankenflucht in die zeitliche oder räumliche Ferne ist freilich auch die Signatur des übrigen Deutschlands. Gestattet die Reaktion nicht freie Regungen in der eigenen Heimat, so begeistert man sich für die Freiheit der revolutionierenden Völker hinten weit in der Türkei. Dem Philhellenentum kam außer der ehrlichen Sympathie für ein mutiges Volk, das unerträgliche Fesseln brach, der Dank für unendliche Wohlthaten zu gute, den Deutschland dem antiken Griechentum schuldete; selbst der kunstbegeisterte bayr. Kronprinz Ludwig, ein mehr eifriger als glücklicher Poet, der bald als König München zu einer Kunststadt ersten Ranges hob, trat für die Freiheit der Hellenen ein, und sie fanden an dem romantischen Sänger der "Griechenlieder" (1821), dem Dessauer Wilh. Müller, bald einen beredten poet. Anwalt. Aber noch weiter nach Osten ging der poet. Gedankenzug, seit Goethe im "Westöstlichen Diwan" (1819) eigene Weisheit und Liebe in ein vortrefflich passendes orient. Kostüm gesteckt hatte. Die unmittelbare Frucht waren Rückerts "Östliche Rosen" (1822) und Platens "Ghaselen" (1821). Der Franke Friedrich Rückert (1788-1866), ein unendlich reiches und leichtes poet. und formales Talent, leider ohne künstlerische Konzentration und Strenge, hat zwar in seinem "Liebesfrühling" auch schlichte deutsche Lieder von einfacher Schönheit geschaffen, blieb aber doch der Vorliebe für den Osten sein Leben lang treu und steht an der Spitze jener quietistisch epikureischen, dabei träumerisch fatalistischen Lehrpoesie, die über Schefers "Laienbrevier" sich bis zu Bodenstedts "Mirza Schaffy" fortpflanzt; der mannhafte Franke Platen (1796-1835) arbeitet, in jeder Hinsicht ein Schüler Goethes, sich aus orient. Weichlichkeit bald zur strengen klaren Schöne der Antike durch. Populär ist er nie geworden; aber in unermüdlichem künstlerischem Ernst und glühendem Ehrgeiz errang er sich eine edle Pracht der Sprache und des Rhythmus wie kein zweiter deutscher Dichter, und seine glänzenden Litteraturkomödien sind immerhin im Kampfe gegen die triviale Mittelmäßigkeit nicht erfolglos geblieben.

Diese Mittelmäßigkeit lagert sich seit den Freiheitskriegen ganz besonders breit und behaglich nieder in der Gunst des Publikums. Die sprachliche Technik war durch die Klassiker geschaffen; der polit. Druck rückt die Modelitteratur, rückt Leihbibliothek und Theater unverhältnismäßig stark in den Vordergrund der Interessen. Es ist die Zeit der Taschenbücher und Almanache, der ästhetischen Thees, der seichten und geschwätzigen Belletristen. Besonders schlimm ist der Kreis, der sich um die von Th. Hell herausgegebene "Dresdener Abendzeitung" schart: außer dem Herausgeber, einem federgewandten Übersetzer schwacher franz. Lustspiele, gehören z. B. Fr. Kind dazu, der Dichter des "Freischütz", Clauren, der Autor vielbeliebter süßlich lüsterner Romane, Weisflog, ein Humorist im Stile E. T. A. Hoffmanns, der seichte, selbstgefällig witzelnde Laun, die fruchtbaren Novellisten Blumenhagen, von Tromlitz und van der Velde. Wenn das Berliner ästhetische Niveau etwas höher stand, so dankte es das nicht Männern wie dem Biographen Varnhagen von Ense, der freilich lange als ein Meister deutscher Prosa galt, nicht dem ästhetischen Kritiker Rellstab, auch nicht dem Herausgeber des sehr achtbaren "Gesellschafters", Friedr. Wilh. Gubitz, sondern in erster Linie dem Einfluß zweier ausgezeichneter Frauen, der geistreichen Jüdin Rahel, Varnhagens Gattin, und der Gattin Arnims, der Schwester Brentanos, der urwüchsig temperamentvollen Bettina: in ihren Zirkeln herrschte ein Goethekultus, der zumal bei Bettina nahezu einen mytholog. Charakter annahm, aber freilich das unbändig wuchernde Unkraut der Trivialität abwehren half. Ihr Tummelplatz ist und bleibt mit Vorliebe der Roman, dessen sich jetzt auch Damen wie Joh. Schopenhauer, Luise Brachmann, Henriette Hanke in langen Bändereihen annahmen. Wenig hat die Zeit überdauert: wer liest jetzt z. B. noch einen Humoristen wie den verstandesscharfen Benzel-Sternau, wer den jeanpaulisierenden Ernst Wagner, den wüsten Schwaben Waiblinger; Contessas Novellen sind uns matt, des Ritters von Lang "Hammelburger Reisen" eine uninteressante Satire geworden, auch K. J. Webers "Demokritos" (1832 fg.) spannt unsere Geduld auf die Folter. Und doch gehören sie alle noch zu den bessern Prosaikern der Zeit. Dauerhafter erwiesen sich Christ. von Schmids fromme Erzählungen (z. B. "Die Ostereier", 1816) und die Novellen Zschokkes, des Verfassers der "Stunden der Andacht" (1809 fg.); auch Pestalozzis pädagogische Bauerngeschichte "Lienhart und Gertrud" findet wohl noch Leser; der Ernst der Gesinnung, der alle drei trägt, ist auch ihren Werken zu gute gekommen. Aber sie sind vereinzelt. Einen nachhaltigen Aufschwung über Clauren und Konsorten bedeutet erst die Einwirkung des historischen Romans Walter Scotts: dem "Lichtenstein" (1826) des jung verstorbenen Schwaben Wilhelm Hauff folgen Spindlers talentvolle, wenn auch schnell gearbeitete Kulturromane und die meisterhaften märkischen Romane von Wilibald Alexis (1798-1871), die künstlerische Freiheit und histor. Treue in so glücklicher Mischung vereinigen, wie sie seitdem nicht wieder gelang.

Mit dem Roman wetteifert das Bühnendrama, das Theater, in der Beliebtheit und der Mittelmäßigkeit. Das ernste Jambendrama, dem die Klassiker den Weg gebahnt, hält sich nicht auf der Höhe; es artet in den Werken des Schwaben Aussenberg und des Bayern E. von Schenk in kalten Pomp aus, der ebensowenig wie die antiken Dramen des Österreichers Collin auf den Brettern Wurzel fassen konnte. Das gelang dem maßvollen jüd. Dichter Mich. Beer zeitweilig mit seinem "Paria" (1823), der schon durch sein glücklich gewähltes sociales Problem fesselte. Das Künstlerdrama, das mit des dän. Romantikers Öhlenschläger "Correggio" einsetzt, später zumal durch Deinhardstein vertreten, auch von Gutzkow und Laube gepflegt wird, ist schon seinen Stoffen nach zu unmittelbarer Wirkung nicht berufen. Karl Immermanns romantische Dramen sind bei reichen Schönheiten eine schwere, spröde Kost, sein gedankenvoller "Merlin" zumal war nur