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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Mundarten

sammenschließt, bilden sich auch in der Sprache gemeinsame Eigentümlichkeiten aus. Das sehen wir heute noch z. B. an der Studentensprache, an dem preuß. Offiziersjargon oder an der Gaunersprache. In der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. entstanden die großen Volksstämme, aus denen die deutsche Nation erwachsen ist. (S. Deutsches Volk.) Jeder Stamm war ein Volk für sich. Der Einzelne fühlte sich nur als Stammesgenosse, fühlte sich im schroffsten Gegensatz zu dem Angehörigen eines andern Stammes. Verkehrseinheit und folglich sprachlicher Austausch bestand nur zwischen den Gauen ein und desselben Stammes. Es bestanden im ersten Jahrtausend n. Chr. überall scharfe Stammesgrenzen, die zu Sprachgrenzen wurden, und dieselben sind zum Teil heutigentags noch nicht verwischt. Die fränk.-schwäb. Grenze im nördl. Württemberg wird, so schreibt 1884 ein Landeskind, »nicht bloß durch die Mundart markiert, sondern auch durch eine merkliche gegenseitige Abneigung zwischen den Franken und Schwaben, sofern heute noch Heiraten herüber und hinüber zu den Seltenheiten gehören. Der eine wie der andere fühlt sich nur in dem Hause behaglich, wo er seine Mundart, seine gewohnte Lebensweise und Sitte wiederfindet. Wo nun solche Unterschiede und Gegensätze in den socialen Anschauungen, in der Lebensweise und im ganzen Typus des Volksstammes mit dem Sprachunterschiede zusammentreffen, da wird man wohl das Recht, von einer Sprachgrenze zu reden, nicht bestreiten wollen.« Auf solchen alten Stammeseinheiten beruhen die Hauptgruppen der D. M. bis auf den heutigen Tag. Noch heute scheiden wir wie vor 1½ Jahrtausenden Bayrisch, Schwäbisch-Alamannisch, Fränkisch, Thüringisch und Sächsisch (d. h. Niedersächsisch, s. d.). Die Grenzen haben sich seit den Zeiten Chlodwigs nicht erheblich verschoben. Die Unterschiede dieser Mundarten waren in ältester Zeit nicht so bedeutend. Je längere Zeit ein Stamm in seiner Besonderheit und Abgeschlossenheit sich gehalten hat, um so mehr sind die sprachlichen Abweichungen dem Nachbarstamme gegenüber verschärft worden.

Innerhalb jeder dieser großen Gruppen hat es nun stets kleinere gegeben. Jeder Stamm zerfiel wieder in kleinere Stämme, deren jeder wiederum für sich ziemlich abgeschlossen lebte und eine besondere, kleinere sprachliche Gemeinschaft bildete. Aus der schwäb.-alamann. Gruppe sondert sich noch heute das Schwäbische als eine eigene Mundart aus, entsprechend der alten Stammeseinheit der Schwaben. Dem Bayrischen gehört das Oberpfälzische als eine selbständige Mundart an. Die ripuarischen und die salischen Franken (d. i. Niederfranken) sind mundartlich scharf voneinander geschieden. Der Stamm der Niedersachsen setzte sich aus den Nordalbingiern, Westfalen, Engern und Ostfalen zusammen, und die niedersächs. Mundart zerfällt dem entsprechend noch heute in eine nördliche (deren Umfang sich freilich erheblich vergrößert hat), eine westfälische, engrische und ostfälische; die Grenzen der letztern drei sind jene alten Stammesgrenzen. Innerhalb derartiger kleinerer Mundarten hat es stets wiederum mundartliche Besonderheiten gegeben, die im Laufe der Zeit erheblich größer geworden sind. Zum Teil richten sich solche nach polit. Verwaltungseinheiten, wenn diese von Dauer gewesen sind. Z. B. zerfällt die Mundart des Elsaß in die des Nordgau und die des Sundgau. Oder die alte Grafschaft Henneberg bildet innerhalb des Ostfränkischen eine Mundart für sich. Zum Teil war ein natürliches Verkehrshindernis, z. B. ein Moor oder ein Gebirge, der Grund, weshalb der Verkehr und somit der sprachliche Austausch von hüben nach drüben ein verhältnismäßig geringer war. Dies ist z. B. bei dem Oberschwäbischen gegenüber dem Unterschwäbischen der Fall: beide Mundarten trennt die Rauhe Alb. Auch der Gegensatz der Konfession hat in neuerer Zeit manches zur Scheidung der kleinern Mundarten beigetragen. So spricht der evang. Bayreuther anders als der kath. Bamberger. In nur wenigen Fällen vermögen wir das Alter derartiger kleinerer mundartlichen Sonderungen zu bestimmen. Das können wir vor allem da, wo sprachliche Neuerungen nur bis zu einer bestimmten Linie vorgedrungen sind, welche fortan eine Sprachgrenze bildet. Derartige Grenzlinien pflegen zwar im großen und ganzen mit den gegebenen Mundartengrenzen zusammenzufallen. Es giebt aber auch viele Beispiele, wo eine durchgreifende sprachliche Neuerung bei ihrem Vordringen mitten innerhalb einer Mundart Halt macht. Z. B. ist die Diphthongierung der alten î, û und ü̂ zu ei, au und eu (z. B. Zît zu Zeit, Hûs zu Haus, Lü̂te zu Leute) in Thüringen von Osten her nur ungefähr bis zu einer Linie Sangerhausen-Artern-Weimar-Ilmenau vorgedrungen, sodaß die Mundart des westl. Thüringens sich von der des östlichen abhebt. Der gleiche Unterschied trennt das Lothringische von dem Rheinpfälzischen, das Niederhessische von der Obereder-Mundart, das Waldecksche von dem Westengrischen und Paderbornschen, das Mindische und Calenbergische von dem südlichern Engrischen, das nördl. und östl. Ostfälische von dem westlichen, das Geldersche von dem Brabantischen und Holländischen.

Ungefähr seit der Mitte des ersten Jahrtausends n. Chr. ist die deutsche Sprache in die folgenden Mundarten gespalten: Ⅰ. Alamannisch: a. Schweizerisch (Südalamannisch), b. Elsässisch, c. Schwäbisch. Ⅱ. Langobardisch (im 9. Jahrh. ausgestorben). Ⅲ. Bayrisch: a. Bayrisch im engern Sinne, b. Oberpfälzisch. Ⅳ. Fränkisch: a. Ostfränkisch, b. Rheinfränkisch, c. Hessisch, d. Moselfränkisch (ripuar.-rheinfränk. Übergangsmundart), e. Ripuarisch, f. Niederfränkisch. Ⅴ. Thüringisch. Ⅵ. Sächsisch (d. i. Niedersächsisch): a. Nordniedersächsisch, b. Westfälisch, c. Engrisch, d. Ostfälisch. Mit Ausnahme von Ⅰ b und Ⅳ a, b und d entspricht jede Mundart einem besondern alten Stamme. In Rheinfranken haben sich mit den eingewanderten, herrschenden Franken leiblich wie sprachlich Alamannen im Süden, Hessen im Norden gemischt; in Ostfranken Thüringer. Auch das alamann. Elsaß hat eine Beimischung fränk. Elements. (Hierzu: Karte der deutschen Mundarten.)

Diese Mundarten bestanden bereits, als seit der Mitte des ersten Jahrtausends n. Chr. eine für die deutsche Sprachgeschichte hervorragend wichtige süddeutsche Lautveränderung eine außerordentlich räumliche Ausdehnung nach Norden zu gewann: die althochdeutsche Lautverschiebung. (S. Lautverschiebung und Deutsche Sprache, S. 74 a.) Dieser Lautwandel erstreckte sich auf jedes p, t, k, b, d und g und war daher von so durchgreifender Wirkung, daß man seitdem die D. M. in zwei Hauptgruppen einteilt: in solche, welche die Verschiebung durchgemacht haben, und solche, welche dieselbe nicht kennen. Letztere nennt man niederdeutsche oder