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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Sprache (Geschichte)

den alten Diphthong iu als ü auszusprechen; aber noch die mittelhochdeutsche Orthographie hat in Oberdeutschland die Schreibung in beibehalten, während man dieses ü̂ ^[gemeint: u mit diaresis und Zirkumflex] in Mitteldeutschland und mittelniederdeutsch u schrieb (z. B. althochdeutsch liuti, altniederdeutsch liudi «Leute» zu mittelhochdeutsch liute, lute, lude, mittelniederdeutsch lude, gesprochen lü̂te und lü̂de). – Seit dem 11. Jahrh. sind im Mitteldeutschen die Diphthonge ie und uo monophthongisch als î und û gesprochen worden (z. B. lieb, guot, wie man heute «lieb» und «gut» ausspricht).

Die wichtigsten konsonantischen Veränderungen jener Zeit sind der Schwund des h in den wortanlautenden Verbindungen hw, hr, hl und hn (z. B. altdeutsch hwer wer, hreini rein, hlahhen lachen, hnîgan sich neigen), der von Oberdeutschland im 8. Jahrh. ausgegangen ist (er ist auch langobardisch) und sich allmählich nordwärts bis zur See ausgebreitet hat (in Niederfranken im 9. und 10. Jahrh., in Niedersachsen im 10. bis 12. Jahrh.), und die Verwandlung des Reibelautes th (zu sprechen wie englisch th) in d (z. B. ertha Erde), die gleichfalls in: 8. Jahrh. vom Oberdeutschen ausgegangen (auch langobardisch ist), im Mitteldeutschen im Laufe des 9. bis 11. Jahrh. allmählich durchgedrungen und schließlich im 11. und 12. Jahrh. auch im Niederdeutschen heimisch geworden ist (hier teilweise erst im 14. Jahrh. vollendet). Alt ist gleichfalls der Übergang des auslautenden m in unbetonter Silbe zu n (z. B. dêm tagum den Tagen), der sich um 800 vollzog. Endlich scheint man bereits im 11., wenn nicht gar schon im 10. Jahrh. in Süddeutschland altes sk entweder wie das westfälische sch (= s + ch) oder schon wie das heutige sch ausgesprochen zu haben, wenn auch die Schreibung sch erst im 12. Jahrh. durchgedrungen ist.

Die althochdeutsche Periode unterscheidet sich dadurch von der mittelhochdeutschen und mittelniederdeutschen, daß sie noch die vollen Endsilbenvokale erhalten hat, die im Mittelhochdeutschen und Mittelniederdeutschen zu dem unbestimmten Vokal geschwächt worden sind, der noch heute mit dem Buchstaben e geschrieben wird (in Mitteldeutschland schrieb man ihn früher i), z. B. althochdeutsch tagâ Tage, lebên leben, gesti Gäste, namo Name, ich gibu ich gebe. Dieser Vorgang ist schon im 10. Jahrh. zu erkennen, jedoch erst in der ersten Hälfte des 12. Jahrh. in der Orthographie durchgedrungen. Die für die altdeutsche Periode charakteristische Schwächung der unbetonten Vokale hat in Niederdeutschland begonnen und ist in Oberdeutschland noch in mittelhochdeutscher Zeit in gewissen Fällen nicht durchgeführt. Am zähesten haben sich in dieser Hinsicht die alamann. Mundarten verhalten, die noch bis in das 14. Jahrh. hinein wenigstens die langen unbetonten Vokale nicht durchaus geschwächt haben. Ja, in den Walser Mundarten südlich vom Monte-Rosa heißt heute noch in althochdeutscher Weise «der Hahn» Hano, «reden» spellon, «schneiden» snîdan, «Schlüssel» Slussil.

Durch die Schwächung der Endsilbenvokale wurden im Mittelhoch- und -Niederdeutschen manche Unterschiede der Endungen der Substantiv- und Verbalflexionen verwischt: das altdeutsche Deklinationsparadigma «Gabe» geba (Nom.), gebâ (Gen.), gebu (Dat.), geba (Acc.), Plural gebâ (Nom.), gebôno (Gen.), gebôm (Dat.), gebâ (Acc.) lautete nunmehr gebe, gebe, gebe, gebe Plural gebe, geben, geben, gebe; althochdeutsch graban «graben» wurde im Indikativ des Präsens grabu, grebis(t), grebit, grabêm, grabet, grabant konjugiert, mittelhochdeutsch graben aber grabe, grebest, grebet, graben, grabet, grabent. Wichtiger noch ist, daß hierdurch ursprünglich verschiedene Deklinations- und Konjugationsklassen äußerlich zusammengefallen sind. Z. B. Maskulinum, Femininum und Neutrum Plur. des Adjektivs fielen außer in Oberdeutschland zusammen (blinde, blindo [blinda], blindu [blind] zu «blinde»). Ferner steht im Altdeutschen dem angeführten Paradigma «graben» ein anderes «salben» gegenüber: salbôm, salbôs(t), salbôt, salbôm, salbôt, salbôn, das nun im Mittelhochdeutschen und Mittelniederdeutschen, da ô zu e geworden, ebenso wie «graben» flektiert wurde, und so haben jetzt starke und schwache Verben im Präsens die gleichen Endungen. – Von den lautlichen Veränderungen des 12. und 13. Jahrh. ist außer vielfacher (besonders oberdeutscher) Synkope des unbetonten e (z. B. nimet zu «nimmt») nur eine von durchgreifender Bedeutung gewesen: der hochdeutsche Reibelaut ʒ ^[richtiges Zeichen? Ähnlich Sütterlin-z] ist im 13. Jahrh. (zuerst wohl in Oberdeutschland) in unser s übergegangen (z. B. daʒ «das», haʒʒen «hassen»). – Ist es schon um die Scheidung einer alten und einer mittlern Periode der D. S. (Grenze um 1100) mißlich bestellt, so noch viel mißlicher um die der mittlern und neuern. Durchschlagende formale Unterschiede fehlen. Man rechnet Mittelhochdeutsch gewöhnlich bis 1500, Mittelniederdeutsch bis ins 17. Jahrh. hinein. Aber der Übergang ist ein ganz allmählicher. Das klassische Mittelhochdeutsch reicht nur bis 1250. Die J. 1250‒1650 leiten vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen hinüber. Während dieser Zeit sind die wesentlichsten Neuerungen der heutigen Sprache zum Abschluß gekommen, während derselben Zeit ist die Schriftsprache fertig geworden und hat sich über die einzelnen Mundarten als deutsche Gemeinsprache erhoben.

In mittelhochdeutscher und mittelniederdeutscher Zeit ist der ganze lautliche Charakter der Sprache durch eine im 12. Jahrh. beginnende neue Art von Silbentrennung wesentlich verändert worden. Die heutige Sprache kennt nur offene Silben mit langem Vokal. Früher gab es auch offene Silben mit kurzem Vokal: Ka-tze, Lo-cke, e-ssen (so noch heute bayr.-österr.), während man heute spricht Kat-ze, Lok-ke, es-sen. Die Doppelschreibung des Konsonanten nach kurzem Vokal bezeichnet, daß er halb zur ersten, halb zur folgenden Silbe gehört. Diese von Hause aus nur nieder- und mitteldeutsche neue Silbentrennung fand nur bei bestimmten Konsonanten statt, den sog. Fortes (s. Fortis). Bei andern Konsonanten behielt man die alte Silbentrennung bei, dehnte aber dafür den Vokal, z. B. in «sagen», «leben», «Stube», Wörter, die früher mit kurzem Vokal gesprochen wurden. Dieser sog. neuhochdeutschen Vokaldehnung steht eine andere, in der heutigen Sprache weniger durchgeführte zur Seite, die in Süddeutschland zu Hause ist, und nach der in einsilbigen Wörtern kurzer Vokal vor Lenis (s. d.) gedehnt wird. Es ist die Frage, ob der lange Vokal, den die Süd- und Mitteldeutschen in «Tag», «Hof», «Schmied» sprechen, diesen Ursprung hat, oder ob er von den Kasusformen her, in denen er in offener Silbe steht, auf den Nom.-Acc. Singularis übertragen worden ist. Außerdem kommen noch andere Dehnungen vor. Für die Vokalkürzung ist die Hauptregel, daß die langen Vokale in geschlossener Silbe im Niederhochdeutschen zum Teil verkürzt worden sind, wenn ein zweiter Konsonant folgte, z. B.