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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Sprache (Geschichte)

die Gelehrten und Gebildeten überhaupt. Es ging hier sehr schnell: im Laufe von zwei Generationen Anfang und endgültiger Sieg. Um 1500 war in Kursachsen die Schriftsprache unbedingt herrschend, in Thüringen etwas später, so auch in Schlesien und der Mark Brandenburg. Rein die Sprache der Prager Kanzlei war es nicht gewesen und noch weniger geblieben, denn sie war sehr bald durch österr. Einflüsse erheblich verändert worden.

Gerade als die Prager Kanzleisprache in Meißen Eingang fand, hatte schon eine neue Reichsgeschäftssprache begonnen. 1440 kam der Österreicher Friedrich Ⅲ. zur Regierung, und fortan war die kaiserl. Kanzleisprache österreichisch. Charakteristische äußere Abweichungen waren vor allem die Wiedergabe des bisherigen ei durch ai, des uo und üe durch ue oder ŭ, vielfacher Abfall des Endsilben-e, Wechsel von anlautendem b mit p, von k mit ch, kh oder kch. Etwas beeinflußt wurde die kaiserl. Kanzlei zwar im Laufe der Zeit durch andere Kanzleien, doch nicht erheblich. Ganz einheitlich war auch ihre Sprache nicht. In der Orthographie trat seit dem Beginn des 16. Jahrh. eine starke Häufung von Konsonanten ein. Erst unter Maximilian (1493‒1519) und durch seine Bemühungen schrieb die kaiserl. Kanzlei eine einheitliche Sprache und gewann einen nachhaltigen Einfluß auf die andern Kanzleisprachen. Diese Sprache blieb unter Karl Ⅴ. (1520‒56) im wesentlichen dieselbe. Bedeutungsvoll war es, daß in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. (begonnen hat dieser Prozeß schon in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrh.) die einzelnen Kanzleisprachen, am meisten die fürstlichen, wenig die städtischen, sich ihr und dadurch einander näherten, indessen nur näherten, nicht sie annahmen. Dagegen auf die Drucksprachen hat die kaiserl. Kanzlei nicht gewirkt, oder höchstens mittelbar, insofern diese auf den betreffenden Kanzleisprachen beruhen. Zu Luthers Zeit galten zwei Normen: Luther (mitteldeutsch) und für die süddeutschen Katholiken Maximilians Kanzlei (oberdeutsch). Das wichtigste Ergebnis war, daß die neuhochdeutschen Diphthonge ei, au und eu (äu) sich auch in den Kanzleien der mundartlich monophthongischen Gebiete (î, û, ü̂) einbürgerten. Sonst wurden viele Besonderheiten der österr. Kanzlei nirgends durchgeführt. Es war wesentlich doch ein nationales Bedürfnis der Zeit, das eine geogr. Ausgleichung der verschiedenen Kanzleisprachen hervorrief. Die Bedeutung des ideellen Vorbildes der kaiserl. Kanzlei darf nicht unterschätzt werden. Was unter ihrem Einfluß stand, nannte man das «gemeine teutsch» (erstes Zeugnis dafür 1464), und mit dem Namen bestand die wenigstens ideelle Einheit einer nationalen hochdeutschen Schriftsprache. Hätte Deutschland damals eine politisch straffe Organisation mit erblichem Kaisertum gehabt, so trüge die deutsche Schriftsprache voraussichtlich einen wesentlich österr. Charakter. Thatsächlich waren um 1500 die sprachlichen Gegensätze der Kanzleien noch sehr groß. Man sprach von einem bayr., schweiz., schwäb., elsäss., fränk., Meißner Deutsch u. s. w., das man auch bloß Hochdeutsch nannte im Gegensatz zu den Mundarten. Außerhalb der Einheitsbewegung hielten sich im 16. Jahrh. in der Hauptsache noch die Schweiz und das kölnische (ripuarische) Gebiet sowie Niederdeutschland. Hier gelangte unsere Schriftsprache erst seit der Mitte des 17. Jahrh. endgültig zur Herrschaft, zwar nicht durch die Kanzlei, sondern durch den Buchdruck. ^[Spaltenwechsel]

Das 16. Jahrh. hat die litterarische Einheitssprache geschaffen. Von entscheidendem Einfluß auf ihre Entwicklung ist die Erfindung des Buchdrucks gewesen und die geistige Bewegung der Reformation, die neue litterar. Bedürfnisse schuf. Die Kanzleisprache des 15. Jahrh. war wesentlich auf die Kanzleien beschränkt. Mit der Drucksprache des 16. Jahrh. war ein weiterer Kreis für das damals sehr lesedurstige Publikum gewonnen. Dadurch erst wurde unsere Schriftsprache nationales Gemeingut. Die Sprache der Drucke lehnte sich zunächst an die der Kanzlei des betreffenden Landes oder der betreffenden Stadt an, wiewohl die Grundlage in stärkerm Maße die Mundart war, als dies bei der Kanzlei der Fall war. Später haben sich die Drucksprachen unabhängig von der Kanzlei entwickelt. Bezeichnend ist, daß nicht der Autor, sondern der Drucker die Sprache machte. Die sprachliche Einigung innerhalb der Buchdruck-Verkehrseinheit war eine freie, ohne äußern Zwang. Der Wunsch nach möglichst großer Verbreitung der Bücher rief überall das Bestreben hervor, eine leidlich gleichmäßige Sprachform durchzuführen. Wichtig sind für den Ausgleichungsprozeß die Nachdrucke gewesen, die bei anderer Mundart des Setzers doch manches vom Original stehen ließen. Die oberdeutschen Drucke mit Ausnahme der Schweiz stehen natürlich der kaiserl. Kanzleisprache am nächsten. Hauptdruckorte waren im 16. Jahrh. München, Ingolstadt, Nürnberg, Augsburg, Ulm, Basel und Straßburg. Der Augsburger Buchdruck, der der kaiserl. Kanzleisprache sehr nahe kam (im 15. Jahrh. hatte man noch rein nach der städtischen Kanzlei gedruckt), war besonders in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. von großer Bedeutung und für unsere Schriftsprache namentlich durch die Nachdrucke Lutherscher Schriften (1520‒40), von deren Sprache die Drucke im zweiten Viertel des 16. Jahrh. immer mehr stehen ließen. Der Übergang zu unserer Schriftsprache ist ein ganz allmählicher gewesen. Noch bis in die erste Hälfte des 17. Jahrh. hinein tragen die Drucke im kath. Bayern und Österreich einen wesentlich oberdeutschen Charakter. In Alamannien ist erst Ende des 15. Jahrh. ein Einfluß des gemeinen Deutsch in den bisher rein mundartlichen Drucken wahrzunehmen. Die Schweiz verhielt sich wegen ihrer polit. Trennung am konservativsten. Hier drang gemeindeutscher Einfluß erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. ein. In Straßburg war bis etwa 1530 die Mundart noch die amtliche Schriftsprache. Aber schon Ende des 15. Jahrh. macht sich im Druck das gemeine Deutsch bemerkbar, und seit 1530 ist der Sieg der Schriftsprache entschieden, wenn auch hier wie anderwärts die Drucke noch bis ins 17. Jahrh. hinein mundartliche Anklänge zeigen. Nürnberg zeigt schon im letzten Viertel des 15. Jahrh. Abweichungen von der Ortsmundart. Die Nürnberger Kanzlei des 15. Jahrh. war zwar wesentlich oberdeutsch, doch beeinflußt vom unmittelbar angrenzenden Ostfränkischen. Dieselbe Sprache schrieben die Meistersinger des 15. Jahrh. und schrieb im 16. Jahrh. Hans Sachs. Im großen und ganzen trägt die Nürnberger Drucksprache des 16. Jahrh. noch überwiegend lokalen oberdeutschen Charakter, doch mit starker Hinneigung zum Mitteldeutschen. Seit etwa 1600 herrscht die mitteldeutsche Litteratursprache. In Mitteldeutschland waren die wichtigsten Druckorte Mainz und seine Filiale Worms, ferner Frankfurt, Erfurt, Leipzig und Wittenberg.