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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Luthers sprachlicher Einfluß ist meist überschätzt worden, wenigstens in Bezug auf die Lautform unserer Schriftsprache. Weit bedeutsamer ist er für Wortbildung, Syntax und Stilistik und namentlich den Wortschatz gewesen. Die litterar. Wirkung von Luthers Schriften, zumal seiner Bibelübersetzung, kann gar nicht genug gewürdigt werden. Seine Schriften fanden eine ungeheure Verbreitung. 1517 waren 80 deutsche Bücher gedruckt worden; 1523 waren es 935. In den J. 1518‒23 sind mehr deutsche Bücher gedruckt und gelesen worden, als in dem halben Jahrhundert vorher seit Erfindung der Buchdruckerkunst, und davon waren mehr als ein Drittel Luthersche Schriften, und diese zählten wiederum Auflagen nach Tausenden. Erst durch Luther ist unsere Schriftsprache weit verbreitet worden, sowohl in die breiten Schichten des Volks, als auch räumlich, besonders auf niederdeutschem Gebiete. Aber Luther fand bereits eine Schriftsprache vor. Allerdings war vor ihm noch alles im Werden. Es fehlte trotz des ersichtlichen Fortschritts, den die sprachliche Einigung gemacht hatte, eine allgemein anerkannte Norm. Bei entsprechender polit. Entwicklung hätten auch mehrere deutsche Schriftsprachen entstehen können, etwa eine schweizerische, eine oberdeutsch-mitteldeutsche, eine ripuarische (kölnische) und eine niederdeutsche, wie sich ja thatsächlich die niederländ. Schriftsprache von der deutschen abgezweigt hat. Luthers Wort einigte Deutschland. Für die Kanzleisprache hatte die kaiserl. Kanzlei eine Norm gebildet. Für die Drucksprache wurde diese Autorität Luther, und zwar nicht nur bei den Protestanten. Mit gewissen Einschränkungen kann man doch sagen, daß Luthers Sprache, namentlich die Bibel, die Grundlage unserer Schriftsprache und der gesprochenen Sprache der Gebildeten ist. Denn die Bibel ward die Quelle, aus der alle nachfolgenden Schriftsteller bewußt oder unbewußt einen großen Teil ihrer Sprachbildung schöpften. Luther sagt in den «Tischreden»: «Ich habe keine gewisse, sonderliche, eigene Sprache im Deutschen, sondern brauche der gemeinen deutschen Sprache, das mich beide, Ober- und Niederländer, verstehen mögen. Ich rede nach der sächsischen Cantzlei, welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland; alle Reichsstedte, Fürstenhöfe schreiben nach der sechsischen und unseres Fürsten Cantzeley. Darumb ists auch die gemeinste deutsche Sprache. Kaiser Maximilian und Churfürst Friderich, Hertzog von Sachsen, haben im Römischen Reiche die deutsche Sprache also in eine gewisse Sprach zusammengezogen.» Die sächs. (mitteldeutsche) Kanzlei und die kaiserliche (oberdeutsche) hatten sich um 1500 sehr genähert. Aber bei bewußter Anlehnung an diese Norm hatte Luther doch viel Spielraum. Zu beachten ist, daß Luthers Sprache zeitlich nicht gleichmäßig gewesen ist. Ungefähr 1524 trat ein Hauptwendepunkt ein. Zuerst kümmerte sich Luther wenig um die Sprachform seiner Schriften; er überließ das den Druckern. Erst mit der Bibelübersetzung bemühte er sich, allgemeine Verständlichkeit zu erreichen und korrigierte sorgfältig selbst den Druck. In erster Reihe sorgte er für konsequente Orthographie. Während vorher in der Doppelschreibung von Konsonanten eine heillose Verwirrung herrschte, war Luthers Regel: Doppelkonsonant nur nach vorhergehendem kurzen Vokal betonter Silbe. Ferner schrieb er tz statt cz und i statt y, außer in auslautendem ey. Anfangs schrieb er ganz nach der stark oberdeutsch beeinflußten kursächs. Kanzlei, später ein reineres Mitteldeutsch. Wo die Kanzlei zwischen Oberdeutsch und Mitteldeutsch schwankte, entschied sich Luther für letzteres. Geringe sprachliche Verschiedenheiten haben alle Bibelausgaben. Die wichtigsten sprachlichen Änderungen Luthers fallen in die J. 1522‒30. Es sei erwähnt, daß 1522 noch u und o für ü und ö gedruckt ist, 1526 nur ü und ö. Im ganzen war Luther konservativ. In manchen Punkten hatte ihn seine Zeit schon überholt (z. B. bei ihm noch «ich half, wir hulfen», «ich bleib, wir blieben»). Das fühlten auch die Zeitgenossen. Die Sprache der Drucke emancipierte sich und schritt fort. So sehr auch in dieser Zeit des Ringens nach dem besten Deutsch Luther durch die massenhafte Verbreitung seiner Schriften eine Autorität wurde, nicht nur bei den Protestanten, so hat doch sein Deutsch nicht als unbedingte Norm für die Schriftsprache überhaupt gegolten. Unbestritten herrschte es in Thüringen, Obersachsen und Ostmitteldeutschland, wo alle Schriftsteller Luthersch schrieben, allenfalls auch noch im übrigen Mitteldeutschland mit Ausnahme des Ripuarischen (Kölnischen). Süddeutschland wurde zwar immer mächtiger von ihm beeinflußt, war aber zunächst noch durchaus selbständig. Die wichtigste nationale Bedeutung der Sprache Luthers war die Erschließung von Niederdeutschland. Zunächst übersetzte man hier Luthers Schriften ins Niederdeutsche. Bald aber wurde hochdeutsch gedruckt. Die Anfänge dieses Vorgangs waren zwar schon gegeben: das Hochdeutsche hatte schon als Kirchen- und Rechtssprache und etwa seit 1500 auch als Kanzleisprache Fuß gefaßt. Aber durch Luther wurde der Sieg der hochdeutschen Schriftsprache entschieden. Ungefähr seit der Mitte des 16. Jahrh. ist das Luthersche Hochdeutsch die herrschende Druck- und offizielle Amtssprache in Niederdeutschland,