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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1815-66)

Geiste der Nation freien Spielraum zu schaffen, damit nicht die schon vorhandene Entfremdung zwischen Regierung und Regierten weiter greife und in den Tagen einer neuen Krisis die Gefahr einer allgemeinen Erschütterung bereite.

Die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. im Juni 1840 schien diese Hoffnungen zu rechtfertigen; manches Bedenken, das, solange der Vater lebte, Zurückhaltung auferlegt hatte, schien beseitigt. Die neue Regierung begann versöhnend. Der mehrjährige Streit mit der kath. Kirche ward durch eine die Interessen des Staates preisgebende Nachgiebigkeit geschlichtet, verfolgte Patrioten aus der Befreiungszeit, wie Arndt und Jahn, wurden rehabilitiert, Boyen, der Organisator der Landwehr, wieder zum Kriegsminister ernannt, den aus Hannover verbannten Brüdern Grimm ward ein Asyl in Berlin geboten; die Äußerungen des Königs bei der Huldigungsfeier in Königsberg, auch wenn sie den Erwartungen auf eine Verfassung nicht entgegenkamen, machten durch den Schwung und die Frische, die aus ihnen heraussprachen, einen günstigen Eindruck. Das Daniederliegen des polit. Geistes war gewichen, neue Gedanken und Bedürfnisse erwachten. Der Gegensatz einer frömmelnden Richtung, die mit der neuen Richtung fühlbarer hervortrat, trug gleichfalls dazu bei, die lebhaftere Bewegung der Geister zu wecken. Noch hatte die beginnende Opposition Vertrauen auf eine entgegenkommende Politik der Regierung und auf eine konstitutionelle Umbildung des Staates nicht aufgegeben. Dem Beispiel einzelner Städte und Körperschaften, die ihr Verlangen um freiere polit. Formen an den Thron gebracht hatten, folgte unter den 1841 einberufenen Provinziallandtagen insbesondere der rheinische und ostpreußische, allerdings ohne etwas zu erreichen. Die Regierung legte vielmehr gegen solche Bitten eine zunehmende Empfindlichkeit an den Tag. Indessen war doch jenes polit. Stillleben, das unter Friedrich Wilhelm III. geherrscht hatte, gründlich gestört; es fehlte nicht an immer erneuten Anregungen; auch wurden durch einzelne Maßregeln, z. B. die periodische Berufung der Provinziallandtage, die Vereinigung der ständischen Ausschüsse (Herbst 1842), die Hoffnung auf neue Gewährungen rege gemacht und der Opposition ein erweiterter Spielraum eröffnet. Das Maß von freier Bewegung, das man für zulässig hielt, überstieg zwar beträchtlich die Schranken, die die frühere Regierung gezogen hatte, war aber lange nicht mehr ausreichend, dem inzwischen gewachsenen Bedürfnis Genüge zu leisten. Dem romantischen Gedanken eines "christlich-german. Staates", von dem Friedrich Wilhelm IV. beseelt war, stand die öffentliche Meinung kühl und ablehnend gegenüber. Die von dieser geforderte konstitutionelle Verfassung verabscheute er und wollte die "ständische Monarchie" wieder herstellen. Aber das auf allen polit. Gebieten unfruchtbare Bemühen der Landtage von 1841, 1843 und 1845 diente nur dazu, die ständische Form stufenweise abzunutzen und das Verlangen nach einer repräsentativen Entwicklung zu steigern. Ohnedies hemmte die Verhandlung mit so vielen Versammlungen die Staatsmaschine mit jedem Tage mehr und legte das Bedürfnis einer einheitlichen Vertretung immer näher. Man hatte sich dabei noch immer mit der Politik, die Österreich und Rußland vertraten, in engem Einverständnis zu erhalten gesucht; und doch war man dem Kreise der Tendenzpolitik, welche die Heilige Allianz geltend gemacht hatte, unvermerkt immer fremder geworden. Man hatte die Staatskirche auszubilden gesucht und nur eine Menge von einzelnen Oppositionen, Sonderungen und Sektenbildungen innerhalb der prot. Kirche vorbereitet. Man hatte die ständische Monarchie im Gegensatz zur konstitutionellen auszubilden unternommen, und es war doch mit jedem Tage die Opposition gegen die rein ständische Vertretung mehr und mehr gewachsen. Man hatte durch Censur und Polizei die unbequeme Opposition zum Schweigen bringen wollen, und es war durch den persönlichen und oft erbitterten Anteil, den die Regierung an den Kämpfen der Zeit genommen, die Autorität der Regierung und das Vertrauen auf ihre Unbefangenheit nur erschüttert worden. Einzelne Symptome der Gärung in Schlesien und am Rhein, auch wenn sie an sich kein polit. Gepräge trugen oder, wie die poln. Verschwörung von 1846, auf nationalen Gegensätzen beruhten, deuteten doch auf Schäden in der polit. Gesellschaft hin, die das herrschende System zu heilen nicht im stande war.

Diese Verhältnisse übten eine ungemeine Wirkung auf das öffentliche Leben der gesamten deutschen Staaten. Die Politik des Ministeriums Abel in Bayern, Blittersdorf in Baden, Hassenpflug und du Thil in beiden Hessen zog eine Opposition groß, deren Einfluß im Volke mit jedem Tage zunahm und, wie namentlich in Baden, weit über den Kreis des eigenen Landes hinauswirkte. Zwar gelang es nirgends, die unverkümmerte Entwicklung des Verfassungslebens zur Geltung zu bringen, aber ebensowenig gewannen die Tendenzen des herrschenden Systems an Macht und Anerkennung. Dazu kamen die Bewegungen auf kirchlichem Gebiete. Seit dem Ausgange des Kölner Kirchenstreites moralisch verstärkt, in Bayern durch Abel in Besitz des regierenden Einflusses, durch eine Reihe jüngerer, thatkräftiger Kirchenhäupter geführt, nahm die ultramontane Richtung des Katholicismus gegen die Protestanten eine immer feindseligere Haltung an. Die Kniebeugungsangelegenheit (s. Kniebeugung), das Verbot des Gustav-Adolf-Vereins in Bayern, das herausfordernde Verhalten eines Teils der Geistlichkeit auf den Kanzeln waren die Vorboten des Kampfes gewesen; weitaus die größte Sensation machte aber 1844 der Bischof Arnoldi von Trier durch die Ausstellung des ungenähten Rockes Christi. Im Katholicismus selbst entstand dagegen Opposition. Teils wirklicher Widerwille gegen die Trierer Rockfahrt, teils polit. Opposition wirkte zusammen, diese Bewegung über einen großen Teil von Deutschland auszubreiten und das Erstehen der Deutschkatholiken (s. d.), der "christkatholischen" und "lichtfreundlichen" Gemeinden auch unter der prot. Bevölkerung zu befördern.

Mitten in diese Bewegungen fiel eine nationale Streitfrage von größerer Bedeutung: die Angelegenheit Schleswig-Holsteins. Seit man in Dänemark, um den Besitzstand zu retten, offen mit der Behauptung hervorgetreten war, die weibliche Erbfolge gelte nicht allein für Dänemark, sondern auch für Schleswig, war nicht nur in den beiden Herzogtümern Schleswig und Holstein der Widerstand gegen solche Bestrebungen gewachsen, sondern auch in Deutschland fing man an, der Lage der Deutschen jenseit der Elbe eine lebhafte Teilnahme zuzuwenden. Mehrere Ständeversammlungen gaben