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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1888 bis zur Gegenwart)

den Empfindungen des Volks für den Begründer des Deutschen Reichs wohl zu rechnen habe.

Der Reichstag trat 22. Nov. wieder zusammen, und alsbald wurde ihm eine Vorlage unterbreitet, in der nun endlich gegenüber den in Frankreich und Rußland auf militär. Gebiet gemachten Anstrengungen die allgemeine Wehrpflicht zur vollständigen Durchführung gelangen sollte. Es wurde eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um über 80000 Mann für die Zeit vom 1. Okt. 1893 bis 31. März 1899 vorgeschlagen; jährlich sollten etwa 60000 Mann mehr eingestellt, die bisherigen Ersatzreservisten vollständig ausgebildet werden. Als Gegenleistung wurde die lange begehrte zweijährige Dienstzeit für die Fußtruppen zugestanden. Bei den Infanterieregimentern sollten dafür im Interesse der ungestörten Rekrutenausbildung vierte Hilfsbataillone gebildet werden. Der jährliche Mehraufwand war auf über 60 Mill. M. veranschlagt und sollte durch Erhöhung der Brau-, der Branntwein- und der Börsensteuer aufgebracht werden. Die Kommissionsberatungen über diese neue Militärvorlage zogen sich sehr lange hin, da der Widerspruch gegen die Höhe der Forderung groß war, die Regierung aber nicht das Geringste nachlassen wollte. Selbst die Konservativen widersetzten sich der Vorlage, da sie die dreijährige Dienstzeit nicht aufgeben wollten. So zerschlugen sich die Verhandlungen völlig. Erst unmittelbar vor der zweiten Lesung brachte das Centrumsmitglied Freiherr von Huene einen Vermittelungsvorschlag ein, der anstatt des geforderten Jahresdurchschnittes von 492068 Mann (ohne die Unteroffiziere) 479229 Mann Friedenspräsenzstärke bewilligen wollte; die vierten Infanteriebataillone sollten nur als Halbbataillone formiert werden. Dieser Vorschlag wurde von der Reichsregierung angenommen, aber im Reichstag 6. Mai 1893 mit 210 Stimmen gegen 162 (Konservative, Reichspartei, Nationalliberale und Polen) abgelehnt. Unmittelbar darauf wurde der Reichstag aufgelöst. Von sonstigen größeren Gesetzentwürfen hatte er nur die über den Wucher, den Verrat militär. Geheimnisse und das Militärpensionsgesetz erledigt.

Das Programm der Regierungen für die Neuwahlen war nun nicht mehr die ursprüngliche Militärvorlage, sondern der Vermittelungsantrag Huene. Von der Centrumspartei selbst hatten dafür nur 12, von den Freisinnigen 6 gestimmt. Während das Centrum die Freunde der Militärvorlage in seiner Mitte größtenteils von sich abstieß, spalteten sich die Freisinnigen in zwei Fraktionen: die freisinnige Volkspartei (Gegner der Militärvorlage unter Richter) und die freisinnige Vereinigung. Außer den hierdurch bewirkten Verschiebungen machte sich im Wahlkampf zum erstenmal eine besondere agrarische Agitation bemerkbar, die in dem "Bund der Landwirte" ihren Mittelpunkt hatte. Dieser war unter der Leitung des Rittergutsbesitzers von Plötz 18. Febr. 1893 in Berlin von 7000 aus allen Teilen des Reichs zusammengeströmten Landwirten begründet worden und zählte bald weit über 100000 Mitglieder. Die durch das Sinken der Getreidepreise verschärfte ungünstige Lage der Landwirtschaft, zu der die Furcht vor der weitern Ausdehnung der Handelsvertragspolitik kam, hatte eine große Gärung in den landwirtschaftlichen Kreisen und den Ruf nach vermehrtem Schutz seitens des Staates erzeugt. Der Bund der Landwirte suchte daher alle landwirtschaftlichen Interessenten ohne Rücksicht auf die polit. Parteistellung zusammenzufassen, um ihnen einen Einfluß auf die Gesetzgebung in den parlamentarischen Körperschaften zu sichern, und unterstützte bei den Wahlen Kandidaten verschiedener Parteien, wenn sie sich für sein Programm (keine Ermäßigung der bestehenden Getreidezölle, keine weitern Handelsverträge, Doppelwährung, Landwirtschaftskammern u. s. w.) verpflichteten. Selbständig neben dem Bund der Landwirte machten sich agrarische Bestrebungen in Bayern durch die dort in verschiedenen Regierungsbezirken begründeten kath. Bauernbünde mit partikularistischem Beigeschmack geltend. Weiterhin bemerkenswert im Wahlkampf war die Zunahme der antisemitischen Bewegung. Sie machte sich größtenteils auf Kosten der Deutschkonservativen geltend, obwohl diese geglaubt hatten, ihr durch Aufnahme des Antisemitismus in das Programm des am 8. Dez. 1892 in Berlin abgehaltenen konservativen Parteitags (sog. Tivoliparteitag) die Spitze abbrechen zu können. Die Wahlen fanden 15. Juni statt und machten unverhältnismäßig viel Stichwahlen nötig. Das schließliche Gesamtergebnis war eine Verstärkung der Reichspartei, der Nationalliberalen, Antisemiten und Socialdemokraten, eine Schwächung des Centrums und eine Reduzierung der Freisinnigen (in ihren beiden Fraktionen) auf die Hälfte ihres bisherigen Bestandes. Es wurden gewählt: 68 Deutschkonservative, 28 Mitglieder der Reichspartei, 96 des Centrums, 53 Nationalliberale, 23 Anhänger der freisinnigen Volkspartei, 13 der freisinnigen Vereinigung, 11 der süddeutschen Volkspartei, 16 Antisemiten, 44 Socialdemokraten, 19 Polen, 8 Elsässer, 7 Welfen, 4 Bauernbündler, 1 Däne und 6 andere Fraktionslose.

Der zum 4. Juli einberufene Reichstag nahm das Militärgesetz 15. Juli mit 201 gegen 185 Stimmen an und wurde darauf sofort geschlossen, indem die Frage, wie die zur Durchführung des Gesetzes nötigen Mehreinnahmen aufgebracht werden sollten, bis auf die Herbstsession verschoben wurde. Nur hatte der Reichskanzler zuvor noch erklärt, daß die nötigen neuen Steuern auf die leistungsfähigsten Schultern gelegt und die schwächern Kräfte geschont, von der Biersteuer also jedenfalls abgesehen werden sollte. Zur Beratung dieser Deckungsfrage trat im August eine Konferenz der Finanzminister der größern Bundesstaaten unter Vorsitz des an Stelle des Freiherrn von Maltzahn-Gültz getretenen Reichsschatzsekretärs von Posadowsky-Wehner in Frankfurt a. M. zusammen. Der Beratung lag zugleich ein vom Finanzminister Miquel, der in Preußen die Steuerreform so glücklich durchgeführt hatte, ausgearbeiteter Entwurf zu einer allgemeinen Reform der Reichsfinanzen zu Grunde, worüber man sich auch einigte. Da bei der schwankenden Höhe der Matrikularbeiträge wie der den Einzelstaaten aus den Zolleinnahmen zufließenden Überweisungen, zumal bei dem Rückgang der letztern infolge der Handelsverträge und dem Anwachsen der Ausgaben infolge des erhöhten Militäretats, eine sichere Aufstellung des Haushaltes der einzelnen Bundesstaaten immer schwieriger wurde und das bisherige Verhältnis, daß die Überweisungen die Matrikularbeiträge erheblich überstiegen, sich in das Gegenteil zu verkehren drohte, sollte den Bundesstaaten ein fester Mehrbetrag der Überweisungen über die Matrikularbeiträge jährlich in der Höhe von 40 Mill. M. gesichert werden. Zur Aufbringung dieser Summe