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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1888 bis zur Gegenwart)

sowie zur Deckung der vermehrten Heereskosten aus eigenen Einnahmen des Reichs wurde eine Erhöhung der bestehenden und Einführung neuer Reichsstempelabgaben, eine Tabakfabrikatsteuer und eine Weinsteuer in Aussicht genommen. Entsprechende Vorlagen gingen dem am 16. Nov. wieder eröffneten Reichstag zu.

Neben dieser Finanzreform war die wichtigste Aufgabe des Reichstags, sich über die Fortführung der Handelsvertragspolitik zu entscheiden. Es lagen weitere Verträge mit Spanien, Rumänien und Serbien vor, die eine lebhafte Opposition fanden. Während die frühern Verträge mit Österreich, Italien, Belgien und der Schweiz eine große Majorität gefunden hatten, wurden bei der inzwischen entfalteten agrarischen Agitation diese sog. "kleinen" Handelsverträge 15. Dez. in dritter Lesung mit nur geringen Mehrheiten angenommen. Die Opposition galt weniger diesen Verträgen selbst als der ganzen Wirtschaftspolitik und sollte eine Kraftprobe für den erwarteten russ. Handelsvertrag abgeben. Namentlich die deutschkonservative Partei trat jetzt geschlossen gegen die Handelsverträge auf, nachdem auf dem Tivoliparteitag die extreme, durch die "Kreuzzeitung" vertretene, der Regierung des "neuen Kurses" und besonders dem Reichskanzler Caprivi wenig freundliche Richtung völlig die Oberhand gewonnen hatte. Die mit Rußland eingeleiteten Verhandlungen hatten sich sehr in die Länge gezogen, und es war schließlich ein förmlicher Zollkrieg ausgebrochen. Rußland hatte die differentielle Zollbehandlung, die sein Getreide gegenüber dem der Vertragsstaaten und besonders Österreich-Ungarns in Deutschland erfuhr, im Juni 1892 durch Aufstellung eines seine bisher schon hohen Zölle bedeutend erhöhenden und sogleich auf Deutschland angewendeten Maximaltarifs beantwortet, Deutschland darauf die für Rußland in Betracht kommenden Produkte noch mit einem Zollzuschlag von 50 Proz. belegt. Endlich 10. Febr. 1894 kam der Abschluß eines Vertrags auf 10 Jahre (bis Ende 1903) zu stande, der auch Rußland den Getreidezoll von 35 M. für die Tonne gewährte, wogegen dieses wesentliche Ermäßigungen seiner Industriezölle zugestand. Gegen diesen Vertrag richtete sich noch einmal die volle Kraft der agrarischen Opposition. Andererseits wurden alle Hebel für den Vertrag in Bewegung gesetzt. Es wurde namentlich geltend gemacht, daß er lediglich die letzte, selbstverständliche Konsequenz der voraufgegangenen Handelsverträge und gar nicht die Landwirtschaft besonders zu schädigen geeignet fei, daß für diese auf andern Wegen eine erhöhte Fürsorge eintreten müsse. Es geschahen auch schon Schritte in dieser Richtung. Um den Grundbesitzern des Ostens gegenüber der Konkurrenz des russ. Roggens einen erleichterten Export ihrer Produkte zu eröffnen, wurde der Identitätsnachweis (s. d.) für die Getreideausfuhr abgeschafft (Gesetz vom 14. April 1894). Im Zusammenhang damit wurde die demnächstige Aufhebung der von den Landwirten des südwestl. Deutschlands als Schädigung beklagten für Getreide und Mühlenfabrikate bestehenden Staffeltarife der preuß. Staatsbahnen zugesichert. Dem preuß. Abgeordnetenhaus war auch bereits ein Gesetzentwurf über die Errichtung von Landwirtschaftskammern zugegangen und eine Reichskommission war berufen worden und 22. Febr. zusammengetreten, um Maßregeln zur Hebung des Silberwertes zu erörtern, schließlich trat der Kaiser selbst im gelegentlichen Gespräch mit der ganzen ihm eigenen Energie für den Vertrag mit Rußland ein, indem er namentlich die hochpolit. Bedeutung des Vertrags mit Rücksicht auf die Herstellung eines freundlichern Verhältnisses zu Rußland überhaupt betonte. So kam es, daß bei der entscheidenden Abstimmung in der zweiten Beratung 10. März sich für den Vertrag die immerhin ansehnliche Mehrheit von 200 Stimmen gegen 146 fand. Dagegen stimmten die Deutschkonservativen, der größere Teil der Reichspartei, etwa das halbe Centrum und die antisemitische Reformpartei. In dritter Lesung wurde der Vertrag 16. März ohne namentliche Abstimmung mit ähnlicher Mehrheit angenommen. Er trat bereits 20. März in Kraft.

Zu diesem bedeutenden Erfolg behilflich war der Regierung auch der Umstand, daß inzwischen durch das ganz spontane Entgegenkommen des Kaisers zwischen ihm und Bismarck ein freundlicheres Verhältnis hergestellt und dadurch doch dessen, Kritik der Regierungspolitik eine gewisse Schranke gezogen war. Bereits bei der Erkrankung Bismarcks im Sommer 1893 in Kissingen hatte der Kaiser seine besondere Teilnahme dem Fürsten direkt zu erkennen gegeben; ein ähnlicher Vorgang ereignete sich bei gleicher Gelegenheit im Jan. 1894 und veranlaßte Bismarck, am Vorabend des kaiserl. Geburtstags, 26. Jan., zur Gratulation in Berlin zu erscheinen, wo er vom Kaiser mit den höchsten Ehren empfangen, vom Publikum mit Jubel begrüßt wurde. Der Kaiser erwiderte den Besuch auf der Durchreise nach Wilhelmshaven 19. Febr. in Friedrichsruh. Diese endliche Wiederherstellung freundlicher Beziehungen zwischen dem Begründer des deutschen Kaiserthrones und seinem gegenwärtigen Inhaber wurde von dem größten Teil der Nation mit aufrichtiger Genugthuung begrüßt, blieb aber zunächst auf das rein persönliche Verhältnis beschränkt und ohne weitere polit. Folge.

War durch die Annahme der Handelsverträge die eine Hauptaufgabe der Reichstagssession zu einem für die Regierung erfolgreichen Abschluß gelangt, so zeigte bei der andern, der Finanzreform, der Reichstag zur Zeit wenig Neigung, auf die weit ausgreifenden Pläne der Regierung einzugehen. Alle drei Steuervorlagen sowie auch der allgemeine Reformplan waren einer und derselben Kommission überwiesen worden, infolgedessen die Beratung, die entgegen den Wünschen der Regierung mit den Steuervorlagen begann, sich weit hinausschob. Bloß das Gesetz über die Stempelabgaben wurde vollständig durchberaten und hier nur der Erhöhung der Börsensteuer und der Steuer auf die Lotterielose zugestimmt, die Besteuerung der Quittungen, Checks, Giroanweisungen und Frachtpapiere aber rundweg abgelehnt. In dieser Form wurde der Entwurf im Reichstag 19. April in dritter Lesung angenommen (Gesetz vom 27. April 1894) und trat schon 1. Mai in Kraft. Beim Tabaksteuergesetz wurde der grundlegende §. 4, der die Einführung der Fabrikatsteuer aussprach, 18. April in der Kommission verworfen und darauf die Weiterberatung vertagt. Die Weinsteuer war ganz aussichtslos, besonders seitdem sich der württemb. Minister von Mittnacht schon bei der ersten Lesung im Reichstag in einer Aufsehen erregenden Rede gegen sie ausgesprochen hatte. Inzwischen war dem Reichshaushaltsetat im Reichstag durch starke Abstriche in den Ausgaben, namentlich des Marineetats, und