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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Litteratur zur deutschen Geschichte)

durch die Höhereinstellung einer Reihe von Einnahmeposten eine rechnerisch bessere Gestalt gegeben worden, sodaß die Mehreinnahme ans der Börsensteuer und dem Lotteriestempel genügte, um die Mehrkosten der Heeresverstärkung für 1894-95 zu decken und die Überweisungen so ziemlich mit den Matrikularbeiträgen ins Gleichgewicht zu bringen. Angesichts dieser ungünstigen Aussichten für ihre Finanzreformvorschläge hielten es die verbündeten Regierungen für geratener, zur Zeit auf deren völlige Erledigung zu verzichten und den Reichstag alsbald zu schließen. Zur Annahme gekommen waren im Reichstag noch eine Reform des Unterstützungswohnsitzgesetzes, Novellen zum Viehseuchengesetz und zur Konkursordnung, Gesetze über die Abzahlungsgeschäfte (vom 16. Mai 1894) und den Schutz der Warenbezeichnungen (vom 12. Mai 1894). Ferner wurden die Initiativanträge des Centrums und der Freisinnigen, die die Geheimhaltung der Abstimmung bei den Reichstagswahlen besser zu sichern bezweckte, angenommen. Auch der seit Jahren vorliegende Antrag auf Aufhebung des Jesuitengesetzes, dessen Zeit das Centrum nun endlich gekommen glaubte, gelangte, nachdem er schon 1. Dez. 1893 in zweiter Lesung durchgegangen war, 16. April trotz aller aus dem Lande dagegen erhobenen Proteste in dritter Lesung mit 168 gegen 145 Stimmen zur Annahme. Dagegen war ein Antrag des Grafen Kanitz, den Handel mit ausländischem Getreide zu verstaatlichen und Minimalverkaufspreise für die einzelnen Getreidearten festzusetzen, 14. April mit großer Mehrheit abgelehnt worden, da nicht einmal die Deutschkonservativen geschlossen dafür eintraten. Ein Antrag des Abgeordneten von Plötz auf Einführung eines Wollzolles kam nicht mehr zur Beratung. Am 19. April wurde der Reichstag geschlossen, nachdem der Reichskanzler zuvor eine Erklärung verlesen hatte, daß die verbündeten Regierungen an der von ihnen vorgeschlagenen Finanzreform festhielten und in der nächsten Session von neuem mit entsprechenden Vorschlägen hervortreten würden.

Auf die auswärtige Lage scheint in der That die Politik der Handelsverträge von günstigem Einfluß zu sein. Die Erwiderung des franz. Flottenbesuches in Kronstadt durch die aus Amerika heimkehrenden russ. Kriegsschiffe in Toulon im Okt. 1893 war in Frankreich mit der größten Begeisterung aufgenommen worden und hatte eine weitere Annäherung Rußlands an Frankreich in deutschfeindlichem Sinne angebahnt. Infolge des Abschlusses des russ.-deutschen Handelsvertrags aber, an dessen Zustandekommen der russ. Kaiser persönlich ein lebhaftes Interesse nahm, hat in Rußland eine freundlichere Stimmung gegen Deutschland Platz gegriffen. Ein Symptom dafür war die Verlobung des russ. Thronfolgers mit der Prinzessin Alix von Hessen (April 1894). Daß das Verhältnis Deutschlands zu den verbündeten Mächten ungetrübt geblieben ist, zeigten die wiederholten gegenseitigen Besuche des Deutschen Kaisers und der Monarchen der beiden andern Staaten. Mit England und Frankreich machten sich bei der fortschreitenden Erschließung des kolonialen Hinterlandes in Afrika weitere Abmachungen über die Abgrenzung der Interessensphären nötig. Nachdem mit England 25. Juli 1893 bereits ein Abkommen über die genauere Grenzfestsetzung am Kilima-Ndscharo getroffen worden war, kam 15. Nov. auch ein Vertrag über die westafrik. Schutzgebiete zu stande, durch den Deutschland der Zugang zum Tsadsee und das ganze Flußgebiet des Schari überlassen wurde. Gegen diese weite Ausdehnung nach Osten erhob alsbald Frankreich Einspruch, indem es sich auf die durch franz. Expeditionen in jenen Gegenden geschlossenen Verträge berief. Da Deutschland dem gegenüber keine Resultate seiner Forschungsreisenden aufzuweisen vermochte, wurde nach langen Verhandlungen ein für Deutschland wenig günstiges, am 15. März 1894 unterzeichnetes Abkommen geschlossen, worin Frankreich das rechte Schari-Ufer am Tsadsee überlassen und ein Zugang zum Mayo Kebbi und dadurch zum Binue eingeräumt wurde, wogegen Deutschland ein Zugang zum Canga (Kongo) eröffnet wurde.

Auch in den westafrik. Kolonien selbst waren wenig erfreuliche Ereignisse zu verzeichnen. In Kamerun brach eine durch Mißgriffe von Beamten hervorgerufene Meuterei von Polizeisoldaten aus. Sie bemächtigten sich 15. Dez. 1893 des Regierungsgebäudes, wurden aber durch Mannschaften des Kreuzers Hyäne schon 21. Dez. daraus vertrieben und darauf zur Unterwerfung gebracht, sodaß ein von Deutschland alsbald abgeschicktes Detachement von Seesoldaten gar nicht in Wirksamkeit zu treten brauchte. Gegen die schuldigen Beamten wurde die Disciplinaruntersuchung eingeleitet. Das südwestafrik. Schutzgebiet wurde durch die Raubzüge des Häuptlings Witboi unsicher gemacht, und Major von François vermochte ihn auch nach der Erstürmung seiner Feste Hoornkrans (12. April 1893) und trotz mehrmaliger Verstärkung der Schutztruppe nicht unschädlich zu machen. Zur Begutachtung der Lage wurde daher Major Leutwein in das Schutzgebiet entsendet und dort im März 1894 zu dessen Landeshauptmann ernannt. Eine weitere Verstärkung der Schutztruppe soll demnächst erfolgen. Günstiger waren die Verhältnisse in Ostafrika, wo nach Vernichtung des unbotmäßigen Häuptlings Sikki in Tabora (10. bis 13. Jan. 1893) und nach Besiegung des Sultans Meli in Moschi (29. Aug. 1893) im allgemeinen friedliche Zustände herrschten und der seit Sept. 1893 an Stelle des Freiherrn von Soden getretene Gouverneur Oberst von Scheele durch Bereisung (1894) des südl. Teils des Schutzgebietes bis zum Nyassasee, auf den Wißmann inzwischen im Auftrage des Deutschen Antisklavereikomitees einen Dampfer gebracht hatte, das deutsche Ansehen dort hob, Bundesgenossen zu einem spätern Kriegszug gegen die räuberischen Wahehe warb und wichtige Beiträge zur genauern Kenntnis des Landes lieferte.

Litteratur zur deutschen Geschichte. Quellenkunde. Die frühesten Nachrichten über Deutschland und die Deutschen finden sich vereinzelt bei Cäsar, Vellejus, Dio Cassius, sodann umfassender in Tacitus' Germania, in des Jordanes Geschichte der Goten, Gregors von Tours Geschichte der Franken und des Paulus Diakonus Geschichte der Langobarden. Die Reihe der eigentlichen deutschen Quellenschriftsteller beginnt unter Karl d. Gr. In den Geschichtswerken dieser Zeit bis herab zum 10. Jahrh. treten vornehmlich zwei Richtungen, die annalistische (s. Annalen) und die biographische, in den Vordergrund. Das Bedeutendste in dieser Art sind die Annalen, welche wohl mit Unrecht Einhard zugeschrieben werden, der in seinem Leben Karls d. Gr. der biogr. Darstellung ein erstes frühes Vorbild geliefert hat. Im allgemeinen teilte sich die biogr.