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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Europa (Geschichte)

ein Königreich England (827). Unter den Slawenstämmen erscheinen die poln. Lechen am bedeutendsten; von der untern Wolga bis zum Dnjestr befestigt sich das Reich der chasarischen Chane; die Bulgaren werden am Ende des 9. Jahrh. aus ihren neuen Wohnsitzen an der mittlern Donau und Theiß durch die Magyaren verdrängt; das Byzantinische Reich wechselt seine Grenzen vielfach unter steten Kämpfen mit slaw., bulgar. und avarischen Eindringlingen. Um das J. 1000 sind schon wieder bedeutende Veränderungen im europ. Staatengebiete sichtbar. In Spanien treten das Königreich Leon und die Grafschaft Castilien kräftiger hervor, aber die arab. Herrschaft besteht noch; Frankreich und Burgund (Arelat) als Königreiche stehen weit zurück gegen das röm.-deutsche Kaisertum, das den Mittelpunkt der europ. Geschichte bildet; ein vereinigtes Königreich Norwegen dehnt sich aus bis zum Weißen Meere; das Chasarische Reich geht unter und ein Russisch-Slawisches wächst schnell heran vom Ladogasee bis zum Kaukasus; die den Magyaren gewichenen Bulgaren werfen sich mit den Walachen auf einen großen Teil des Oströmischen Reichs, und türk. Völker, unter ihnen die Petschenegen, rücken am Nordgestade des Schwarzen Meers näher heran. (S. die Karte: Byzantinisches Reich um das J. 1000 n. Chr., Bd. 3, S. 814.) Der Entwicklung der europ. Civilisation drohten so große Gefahren, und zugleich war Italien und in Italien Rom, der Mittelpunkt und das Haupt der christl. Kirche, wiederholt in wüster Zerrüttung und tiefer moralischer Versunkenheit. Aber die deutschen Könige stellten die Ordnung daselbst immer wieder her, erhoben ausgezeichnete Männer zu Päpsten und schützten die Mission, welche das Christentum über die noch heidn. Länder im Norden und Osten E.s ausbreitete. Dann erhob das Genie Gregors VII. die Hegemonie des Papsttums über das Kaisertum, und seine Nachfolger riefen zu den Kreuzzügen, das Gemeingefühl des christlichen E.s neu belebend. Während der Kreuzzüge, vom Ende des 11. bis zu dem des 13. Jahrh., treten neue Staaten selbständig auf, andere verlieren an Macht. Portugal wird als späteres Königreich von Spanien getrennt, Aragonien strebt mit Castilien nach der Verdrängung der Araber, Sicilien ist blühend, erfährt aber einen vielfachen Herrschaftswechsel. Frankreich wird auf längere Zeit in seinem westl. Teile ein Lehn engl. Könige, das alte Burgund steht in Abhängigkeit des Deutschen Reichs, dieses erreicht unter den Hohenstaufen die größte Ausdehnung, Dänemark um dieselbe Zeit seine größte polit. Bedeutung. Schweden dehnt sich bis nach Finland aus und Ungarn schreitet bis ans Adriatische Meer vor, Venedig und Genua werden mächtig auf dem Mittelmeere, Polen gewinnt an selbständiger Macht, ein neues Walachisch-Bulgarisches Reich schiebt sich zwischen Balkan und Donau, und das große Russische Reich zersplittert in mehrere Teile und wird unfähig, die hereinbrechenden Mongolen zurückzuwerfen. Seitdem im Kampfe der Staufer mit den Päpsten Deutschland seine Macht und innere Festigkeit eingebüßt, sinkt seit dem Ende des 13. Jahrh. auch die päpstl. Macht immer mehr (Exil zu Avignon); England und Frankreich erlangen größere Bedeutung, zerfleischen sich aber in einer langen Reihe blutiger Kämpfe. (S. Historische Karten von Europa I, 2.) Am Ende des 14. Jahrh. werden die drei skandinav. Reiche (wirksam freilich nur auf kurze Dauer) vereinigt, Polen tritt unter Jagello in seine Glanzperiode, und im Südwesten wird durch die Kraft der Portugiesen der Islam bis nach Afrika verfolgt und auch in Spanien auf die südlichsten Grenzen zurückgeworfen. Während der Halbmond im Westen allmählich sinkt, steigt er im Osten um so mächtiger auf; 1453 erobern die Türken Konstantinopel und machen dem Oströmischen Reiche ein Ende.

Mit der Mitte des 15. Jahrh. beginnt für E. die Epoche, welche es zur Herrin des Erdballs machen sollte. Nach umwälzenden mechan. Erfindungen, wie Pulver, Geschützwesen und Buchdruckerkunst, folgen am Ende des Jahrhunderts die Entdeckung Amerikas und die des Seewegs nach Ostindien; 1521 umsegelte Magalhães die Erde. In denselben Jahren brach Luther auf immer die ausschließliche Macht der Papstkirche im Abendlande, und in den Kämpfen, welche an seine Reformation anknüpfend die gesamten roman.-german. Nationen in zwei Lager teilten, bildete sich ein neues europ. Staatensystem aus. (S. Historische Karten von Europa I, 3.) In wiederholten Kriegen erwehrten sich Frankreich unter Franz I., die deutschen und skandinav. Protestanten und die Magyaren der erdrückenden Übermacht, welche Karl V. als Kaiser und Erbe der österr., burgund. und span. Macht vereinigt hatte. Seine Abdankung (1556) trennte die deutsche Linie des habsburg. Hauses von der spanisch-burgundischen und isolierte den großen Religionskampf wesentlich auf den Westen E.s; sein Sohn Philipp II., unterstützt vom Papst und den franz. Katholiken, leitet die Politik der Gegenreformation; die Hugenotten, die Niederländer und vor allen Königin Elisabeth von England halten den Protestantismus aufrecht. Das Ergebnis am Ende des Jahrhunderts ist die Selbständigkeit der niederländ. Republik, die Begründung der engl. Seehegemonie, die schon auf die span.-amerik. Kolonien übergreift, die innere Einigung Frankreichs unter dem Hugenottenhaupt Heinrich von Navarra, der aber als König Heinrich IV. den Katholicismus annimmt, und die Isolierung und dauernde Schwächung Spaniens. Erst jetzt entwickeln sich in Deutschland die religiösen Gegensätze, welche der Augsburger Religionsfriede (1555) verewigt hatte, unter dem neuerwachten Religionseifer der von den span. Verwandten angestachelten deutschen Habsburger zu blutigem Hader. Die Stiftung der Liga, die Vergewaltigung Donauwörths (1607), die Gründung der Union sind Vorspiele des großen deutschen Krieges, der dreißig volle Jahre hindurch (1618-48) Deutschland zum Schauplatz zerrüttender innerer und europ. Kämpfe macht, die großen Fragen der deutschen Politik aber nicht löst und nur die Auflösung des alten Reichs vollendet.

In diesem Ringen kommt im Kampf gegen Österreich und Spanien das durch Richelieu geleitete Frankreich an die Spitze der europ. Mächte. Während dieser gewaltige Staatsmann die Hugenotten niederwirft, alle innern Stürme gegen die Krone bändigt und die Macht des Staates durch Reformen der Verwaltung ungemein steigert, reicht er in Deutschland dem Vorkämpfer des Protestantismus, Gustav Adolf, der die Hegemonie Schwedens an allen Küsten des Baltischen Meers in glänzenden Kämpfen gegen Russen, Polen und die deutschen Katholiken begründet, die Hand (1629). Beide Mächte stärken sich auf Kosten Deutschlands, das an sie herrliche Provinzen ab-^[folgende Seite]