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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Findelhäuser
ans den Konig, seine außerordentliche Arbeitskraft '
aus diplomat. Gebiete und in der Verwaltung, die ^
während des Krieges fast allein in seinen Händen
lag, müssen ihn als einen der Netter Preußens in
jenen Kriegsjahrcn hinstellen. Auch bei dem Bayri-
schen Erbfolgestreit und bei der Begründung des
Fürstenbundes (s. d.) war F. der vertrauteste polit. ^
Ratgeber des Königs. Die Frische des Geistes und ^
Körpers ließen ihn auch noch unter den beiden Nacb-
folgern Friedrichs d. Gr. bis zum letzten Atemzuge
sein Amt verwalten. Er starb 3. Jan. 1800.
Findelhäufer, Anstalten, in denen Findel-
kinder (s. d.) auf öffentliche Kosten Aufnahme, Ver- ^
pflegung und Erziehung erhalten; in neuerer Zeit
erbielten auch diejenigen Anstalten diesen Namen,
in welche die Eltern selbst ibre Kinder bringen, wenn ^
sie nicht im stände sind, sie zu verpflegen. Schon
srübzeitig nahm sich die christl. Kirche der Findel- i
linder an, um das Leben neugeborener Kinder gegen i
gefährliche Aussetzung und Kindesmord zu schützen, '
und bereits im 6. Jahrh, soll zu Trier eine Art von !
Findelhaus bestanden haben. Mit Bestimmtheit ^
läßt sich jedoch erst das Vorhandensein eines Findel-
hauses 787 zu Mailand nachweisen. Später traten
F. auch anderwärts auf, so 1070 zu Montpellier, ^
1200 zu Eimbeck, 1317 zu Florenz, 1331 zu Nürn-
berg, 1302 zu Paris, 1380 zu Venedig, 1687 zu ^
London. Nachdem sich diese Anstalten fast aller- !
wärts verbreitet hatten, verschwanden sie nach und
nach in den meisten german. Ländern wieder, und !
zwar namentlich in den protestantischen. Nur in >
den roman. Ländern und in Rußland dauerten sie
in beträchtlicher Zahl fort. ,
Die eigentliche Heimat der F. ist Italien, wo !
ursprünglich die Aufnahme der Findelkinder mittels !
der sog. Dr eh lade (i-nota) erfolgte, die es den,
Angehörigen gestattete, ihre Kinder in geheimer, i
aber völlig sicherer Weise dem Findelhause zu über- !
geben. Diese Drehlade ist ein drehbarer Holz- !
wlinder, dessen eine Hälfte mit einer Aushöhlung
versehen ist. Will jemand dem Findelhause ein Kind
übergeben, so giebt er mit einer an der Dreblade
angebrachten Glocke ein Zeichen, worauf die mit der !
Höhlung versehene Hälfte des Eylinders nach außen >
gcdrebt und, nachdem das Kind hineingelegt, wieder !
nach innen zurückgedreht wird. Das System der!
Trehladen besteht zwar noch in manchen Gemeinden ^
Italiens fort, ist aber, wie auch in andern Ländern, !
wo es früher bestand, mehr und mehr abgekommen. ^
Die Aufnahme erfolgt statt dessen in einem Bureau, ^
in welchem die Gründe, weshalb das Kind dem!
Findelbause übergeben wird, zu Protokoll zu geben ^
smd. Dieses sog. romanische Svstem ist auch ^
in Frankreich durchgeführt, wo ein Dekret vom
19. Jan. 1871 die obligatorische Errichtung eines '
Findelhauses in jedem Kreise anordnete. In Ost er- >
reich sind, wie in Frankreich, die Drebladen auf- '
gehoben. Es bestehen im wesentlichen nur noch die
beiden großen F. in Wien und Prag, die, von Kaiser
Joseph 1. begründet, mit den Gebäranstalten ver-
bunden sind. Uneheliche Kinder, die in der Gebär-
anstalt geboren sind, werden in der Regel am
10. Lebenstage mit ihren Müttern in die Findel-
anstalt versetzt, in welcher letztere Ammendienste
verrichten. Die Kinder, welche sich lner gut ent-
wickelt haben, kommen nach einer gewissen Zeit in '
Auhenpflege zu Pflegeeltern, welche gegen Zahlung
und unter Beaufsichtigung durch die Organe der
Anstalt 0 bez. 10 Jahre die Pflege der Kinder über-
nehmen. Nach Ablauf diefer Zeit fcheiden die Kinder
aus dem Verbände der Anstalt, und die Fürsorge
für dieselben fällt alsdann der Mutter oder der
Heimatsgemeinde zu. Diefes Verfahren pflegt man
das Iosephinische Syste m zu nennen. Ahnli'ck
sind die unter Katharina II. von Rußland refor-
mierten F. in Petersburg und Moskau eingerichtet.
Die Findlinge stehen hier bis zum 21. Lebens-
jahre unter der Obhut der Anstalt; bis zum Alter
von 15 I. werden Verpflegungskosten bezahlt.
Die Knaben werden meistens für den Landbau
oder ein Gewerbe, die Mädchen zu Dienstboten er-
zogen; im Falle ihrer Verheiratung bekommen
letztere eine Ausstattung. Ganz verschieden von
dem roman. System des Findelwesens, welches durch
Abschaffung der Trehlade und Durchführung der
Außenpflege eine bedeutsame Reform erfahren hat,
ist das germanische System (Deutsches Ncick,
England, Belgien, Niederlande, Schweiz, Skandi-
navien und Nordamerika), welches die Fürsorge für
die betreffenden Kinder der kommunalen Armen-
pflege zuweist. Aus dem Deutschen Reiche sind die
F. vollständig verschwunden; in Preußen wies der
Landtag 1860 eine die Gründung eines Findel-
hauses bezweckende Petition ab.
Die Sterblichkeit der Kinder ist in den F., na-
mentlich im ersten Lebensjahre, naturgemäß sehr
groß. Früher betrug dieselbe in manchen An-
stalten über 70 Proz. Doch ist anzuerkennen, daß
in den neuern Findelanstalten (Wien, Prag, Mai-
land u.a.), alle von der Neuzeit erforderten hy-
gieinischen Einrichtungen in vollem Umfange vor-
banden sind und auch die künstliche Ernährung
bei den von Ammen nicht gestillten Kindern in sach-
gemäßer Weise durchgeführt wird. Infolgedessen
ist auch die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr we-
sentlich gesunken (auf 30,2 Proz. in Wien, 2l,o Proz.
in Mailand). Im übrigen sind die Ansichten der
sachverständigen über den Wert oder Unwert der
F. geteilt. Für die Behauptung, daß sie die Un-
sittlichkcit, d. h. den außerehelichen geschlechtlichen
Umgang fördern, ist von den Gegnern der F. ein
auf Zahlen gegründeter Beweis noch nicht erbracht.
Viel schwerere Schäden stellen sich da heraus, wo
junge Mütter gezwungen sind, ihr Kind, weil sie
es selbst nicht behalten tonnen, gewissenlosen Halte-
frauen (f. Engelmacherei) zu übergeben. Indessen
sind andere gewichtigere Einwände gegen das Findel-
bauswesen erhoben, die eine gründliche Reform des
Findelwesens in Deutschland bislang verhindert
haben. Als einer der erheblichsten fällt ins Gewicht,
daß eine zweckentsprechende staatliche Findelpflege
den Staat mit beträchtlichen Ausgabel: und einer
ausgedehnten Verwaltung belasten würde.
Litteratur. Hügel, Die F. und das Findel-
wesen Europas (Wien 1863); Conrad, Die Findel-
anstalten, ihre geschichtliche Entwicklung und Um-
gestaltung in der Gegenwart, in den "Jahrbüchern
für Nationalökonomie und Statistik" (Jahrg. 1869,
Bd. 12, S. 241 fg.); Llion Lallemand, iiistoirs
<I63 outantz Ädaiiä0llN68 6t (1^1^188^8 (Par. 1885);
Raudnitz, Die Findelpflege (Wien 1886); Friedin-
ger, Denkschrift über die Wiener Gebär- und Findel-
anstalt (ebd. 1887); Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften, Bd. 3, S. 505 fg. (Jena 1892); Artikel
Findelwefen in Villarets "Handwörterbuch der gesam-
ten Medizin" (Stuttg. 1888); Nahts, Artikel Findel-
wesen in Dammers "Handwörterbuch der öffent-
lichen und privaten Gesundheitspflege" (ebd. 1890).