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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte 1789-95)

als Körperschaft teilte jedoch auch der Klerus die Sünden der Bevorrechteten reichlich. Vorrechte besaß er im weitesten Maße; seine Gesamtsitzungen zeigten alle übeln Seiten der organisierten Standesselbstsucht, die allgemeinen Steuern bekämpften sie mit Starrheit und errangen für den Klerus stets weitgehende Erleichterungen. Auch gegen ihn und seinethalben gegen die von ihm verkündigte Religion wandte sich daher die öffentliche Meinung.

In stetem Gegensatze zur Kirche und dennoch an Standesart und Vorrecht ihr ähnlich, stehen die Parlamente, die Träger des Gerichtswesens da. Ursprünglich von der Krone geschaffen, hatten diese höchsten Gerichtshöfe eine volle Selbständigkeit auch gegen jene errungen; die Käuflichkeit der Ämter, die allmählich auch gegen eine weitere Abgabe erblich wurden, hatte einen eng zusammenhängenden Kreis großer richterlicher Familien geschaffen, der die hohen Richterstellen in seinen Händen festhielt. Die Käuflichkeit dieser wie anderer Stellen war aus fiskalischen Gründen eingeführt, der Besitzer des Richteramtes kam durch steigende Sporteln, die die Parteien zahlten, auf reichliche Zinsen der Kaufsumme, und dieser Eigenbesitz des Amtes und dessen fast kaufmännischer Charakter beeinflußten vielfach die Rechtsprechung. Die oligarchische Gestaltung des Richterstandes führte auch sonst zu unsauberm persönlichem Treiben, Verbesserungen ließ diese geschlossene Kaste nicht leicht zu; berühmt ist Voltaires Kampf gegen die parteiische und überharte Strafrechtspflege (s. Calas). Andererseits hatte dieser starre Standesgeist der "Magistratur" auch eine Fülle guter Seiten: im ganzen hielten doch die Richter die Standesehre aufrecht und zeigten eine feste und stolze, von der Regierung unabhängige Haltung. Als Ganzes aber war die Magistratur eine Körperschaft von Privilegierten, deren Dasein mit dem eindringenden Geiste der neuen Zeit im scharfen Gegensatze stand und mit den nivellierenden Bestrebungen der Verwaltung stets im Hader lag. Die Rechtsverfassung gipfelte in den Parlamenten: ihre untern Stufen spiegeln die volle Ungleichmäßigkeit des noch nicht zu Ende durchgebildeten Staates. Durch die siéges présidiaux (etwa unsern Landgerichten entsprechend) und die niedern Gerichte in verschiedenen Gestaltungen (baillages, sénéchaussées, tiefer die prévôtés) reicht die königl. Gerichtsbarkeit hinab in alle Kreise, unter und neben dieser bestanden aber noch die eingeschränkten, unregelmäßigen Reste der Gerichtshoheit der Seigneurs und der Städte. Hier wie überall gab es Ansätze zur Vereinheitlichung (besonders Gesetzgebung, einheitliche Ordonnanzen) und bei allgemeiner Rechtsunsicherheit das allgemeinste Bedürfnis nach Reform. Hier wie überall lag das Bedürfnis mit der alten Gliederung im Streit, und die Krone hatte unterlassen, diesen Streit, durch Auflösung des Unhaltbaren, zu entscheiden.

C. Die geistige Bewegung innerhalb der Gesellschaft verlieh den materiellen Wünschen erst die ideelle Form und, nach vergeblichen Hoffnungen, den Fanatismus, der zur Revolution geführt hat. Langsam erwachte gegen die Dogmatik der Autorität unter Ludwig XIV. die Kritik; seit dem Beginn des 18. Jahrh. wendete sie sich gegen die Einseitigkeit röm. Ansprüche (Jansenismus, Parlament), seit der Regentschaft allmählich auch gegen die polit. Schäden. Eine liberale, durch engl. Anregung hervorgerufene maßvolle Richtung ging voran, die, an die bestehenden franz. Einrichtungen anknüpfend, die Stände wie das Königtum reformieren, nach engl. Muster neu beleben und eine auf das altfranz. Ständetum begründete Selbstverwaltung bei Vorherrschaft der Krone schaffen wollte. (S. Argenson und Montesquieu.) Hierüber geht die eigentliche Aufklärung hinweg, die Vernunftkritik wird rücksichtsloser, die Unhaltbarkeit der Körperschaften klarer, auf das Königtum und seine Verwaltung wird ganz im Sinne der franz. Geschichte die Hoffnung durchgreifender, gleichmachender Reform gegründet, und ein aufgeklärter Absolutismus war das Ziel der Physiokraten und thatsächlich auch Voltaires, trotz republikanischer Träume. Diese Zeitbildung bereitete, da das Königtum seine Pflicht nicht erfüllte, dem Radikalismus den Boden und mußte ihn diesem abtreten. Rousseau erhebt die kleinen Zustände der Genfer Republik zum allgemeinen Ideal; ein Bau einer neuen Gesellschaft und eines neuen Staates wird durchaus vernunftgemäß aufgeführt, als ob man einem Nichts gegenüberstände. Da die Litteratur den öffentlichen Geist seit 150 Jahren beherrschte, da diese Lehre bei den Höhern keinen Widerstand, in dem aufstrebenden Gleichheitsbedürfnis der Niedern alle Nahrung fand, so wurde die öffentliche Meinung bis tief hinab von dem Bestehenden losgelöst und an den Gedanken der Umwälzung langsam gewöhnt. Ludwig XVI. erweckte erst noch die Hoffnung einer doch noch denkbaren Reform; sie blieb aus, eine Reaktion folgte, der revolutionäre Geist reifte vollends, die Ungeschicktheiten der Regierung gaben ihm das Heft in die Hand, alle alten Gewalten lähmten sich selbst; auch das Heer wurde vom neuen Geiste zersetzt, keine Staatsmacht blieb aufrecht und die Revolution brach unaufgehalten los.

5) Während der Revolution (1789-95). Der Widerstand gegen die berechtigten Forderungen der Volksdeputierten hatte 17. Juni 1789 zur Konstituierung des Dritten Standes als Nationalversammlung geführt; er führte, als die Regierung deren Sitzungen untersagte und der Dritte Stand sich nun in dem sog. Ballhause versammelte, 20. Juni zu dem feierlichen Eidschwure der Deputierten, sich nicht eher zu trennen, als bis die neue Verfassung des Staates vollendet sei. Nach der königl. Sitzung vom 23. Juni, in der zwar nicht unwesentliche Neuerungen (Abschaffung der Lettres de cachet, Preßfreiheit, Beseitigung der Binnenzölle und Wegefronen, Steuerbewilligungsrecht der Generalstände u. a.) angekündigt, aber doch auch wieder die alten Feudalrechte und die ständische Organisation festgehalten wurden, erklärte die Nationalversammlung die Unverletzlichkeit ihrer Mitglieder und jede Gewaltthat gegen sie für Hochverrat. Der von seiner Umgebung geleitete König ließ hierauf unter dem Marschall Broglie ein starkes Truppenkorps zusammenziehen, löste das Ministerium auf und verbannte Necker über die Grenze. Diese Maßregeln verursachten 12. Juli zu Paris den ersten blutigen Aufstand; 13. Juli erfolgte die Errichtung einer Bürgermiliz und einer revolutionären Municipalbehörde; 14. eroberte das bewaffnete Volk die Bastille (s. d.). Die Bewegung teilte sich schnell den Provinzen mit, überall entstanden Nationalgarden und Municipalitäten, die königl. Gewalt war mit einem Schlage auf allen Punkten gebrochen. Jetzt erst versöhnte sich der König mit der Versammlung und suchte die Hauptstadt zu beruhigen, indem er Necker zurückrief, Bailly als Maire und Lafayette als Befehlshaber der Nationalgarden bestätigte, während