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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte 1815-30)

waffneten Macht, erklärte Krieg und schloß Frieden, verlieh die Staatsämter und hatte die Initiative in den Gesetzen. Er konnte die beiden Kammern (der Pairs und der Abgeordneten), die mit ihm die Gesetzgebende Gewalt übten, berufen, vertagen und auflösen; doch mußte er in letzterm Falle binnen 3 Monaten neue Deputiertenwahlen anordnen. Die Pairs, erblich oder persönlich, ernannte er. Die Deputiertenkammer, die sich jährlich zu einem Fünfteil erneuerte, ging aus Wahlkollegien hervor; der König ernannte die Präsidenten der Wahlkollegien und wählte den Präsidenten der Kammer aus fünf dafür vorgeschlagenen Deputierten. Jeder Deputierte mußte 40 J. alt sein und 1000 Frs. direkter Steuern zahlen; der Census der Wähler wurde auf 300 Frs. bestimmt, ihr Alter auf 30 J. Überdies erklärte die Charte Verantwortlichkeit der Minister, Unverletzlichkeit der Richter, Beibehaltung der Jury, Freiheit der Abstimmung u. s. w., nur ließ sie dem königl. Willen einen breiten Spielraum in Artikel 14 übrig, der der Regierung das Recht der Verordnung einräumte, wenn die Sicherheit des Staates dies erheischte. Am 13. Mai 1814 ernannte der vom Herzog von Blacas geleitete König das Staatsministerium, bestehend aus dem Kanzler d'Ambray, dem Minister des Auswärtigen Talleyrand, dem des Innern Abbé Montesquiou, dem Finanzminister Baron Louis u. s. w. Bei der Einrichtung des Hofstaates trat der alte Adel in seine persönlichen Rechte wieder ein; auch wurden die alten Orden hergestellt. Der mit den Verbündeten 30. Mai 1814 abgeschlossene (erste) Pariser Friede (s. d.) beschränkte F. auf die Grenzen vom 1. Jan. 1792; doch behielt es Avignon und Venaissin und erhielt von England fast alle Kolonien zurück. Die Charte hatte auch die Befreiung von der Grundsteuer und andern drückenden Lasten verheißen; allein die Regierungsbedürfnisse und die sehr bedeutenden Bewilligungen an Emigranten und herabgekommene Privilegierte machten die Beibehaltung aller möglichen Finanzmittel nötig, was große Mißstimmung erregte. Noch tieferes Mißvergnügen veranlaßte aber die allgemeine Reaktion, die im polit. Leben sogleich eintrat, als die notwendigsten Anordnungen getroffen waren. Man führte die Censur ein, dehnte die Polizeigewalt aus und verletzte die Gerichte, verfolgte die Anhänger des Kaisers und die Republikaner und erregte Zweifel über das Eigentumsrecht auf erworbene Nationalgüter. Am meisten fühlte sich die Armee verletzt, als sie ihre Cadres aufgelöst, ihren Ruhm verspottet, ihren Sold vermindert und ihre Ehrenzeichen vertauscht sah.

10) Während der Hundert Tage (1815). Während dieser allgemeinen Mißstimmung verbreitete sich die Nachricht von der Rückkehr Napoleons. Er landete 1. März 1815 in Cannes, und das Heer wendete sich ihm sogleich mit Begeisterung zu. Am 19. März floh der König von Paris nach Gent, und am 20. abends kehrte der Kaiser ohne Schwertstreich in die Hauptstadt zurück. Napoleon hob sogleich die Kammern und die meisten königl. Verordnungen auf und ernannte ein neues Ministerium. Um sich mit den Liberalen abzufinden, gewann er Constant de Rebecque, übergab Fouché das Polizeiministerium und erließ 22. April eine Additionalakte (s. d.) zu der Verfassung von 1804, die vor einer Champ de mai genannten Versammlung von Vertretern aller Wahlbezirke und Mitgliedern der Armee und Marine 1. Juni 1815 auf dem Marsfelde feierlich beschworen wurde. Dieselbe ließ die beiden Kammern der Charte bestehen, gewährte Kultus- und Preßfreiheit, Geschwornengerichte, Unantastbarkeit des erworbenen Grundbesitzes, Petitionsrecht, Unabsetzbarkeit der Richter und Ministerverantwortlichkeit. Aber der Erfolg blieb aus, und dazu drohte der Krieg von ganz Europa. Sobald die Nachricht von der Landung Napoleons auf dem Kongreß in Wien anlangte, wurde er als der Störer des Weltfriedens geächtet, und 25. März schlossen Österreich, Rußland, Preußen und England einen neuen Allianztraktat, in dem sich jede dieser Mächte zur Stellung von 150000 Mann verpflichtete. Napoleon brach Mitte Juni gegen die Heere der Verbündeten auf, die von Ostende aus bis nach Italien eine große Kette um die franz. Grenze zu bilden begannen. Der Anfang des Kampfes war für Napoleon günstig; allein am 18. wurde er bei Waterloo von den Engländern und Preußen gänzlich geschlagen. Er eilte nach Paris und verlangte neue Opfer von der Kammer, die aber nichts bewilligte, sondern unter Drohungen seine Abdankung forderte. Als hierauf die Verbündeten ohne Widerstand gegen Paris vordrangen, legte er 22. Juni die Krone zu Gunsten seines Sohnes nieder. Nachdem 3. Juli Blücher und Wellington mit dem Marschall Davout eine Militärkonvention abgeschlossen, kraft der sich die franz. Armee hinter die Loire zurückziehen mußte, rückten die Verbündeten am 7. wieder in Paris ein. (S. Russisch-Deutsch-Französischer Krieg von 1812 bis 1815.) Am 8. erschien Ludwig XVIII. unter engl. Schutz, um von dem Throne aufs neue Besitz zu nehmen. Eine neue Deputiertenkammer wurde sogleich einberufen und gegen die Anhänger Napoleons die heftigste Verfolgung begonnen. Erst 20. Nov. kam zwischen dem König und den Verbündeten der zweite Pariser Friede (s. d.) zu stande, worauf F. auf die Grenzen von 1790 zurückgeführt wurde.

11) Unter der zweiten Restauration (1815-30). Ludwig XVIII. hatte bei seiner zweiten Ankunft zu Paris der Provisorischen Regierung eine liberale Politik und eine allgemeine Amnestie versprochen; allein seine Umgebung ließ ihn diese Zusage nicht halten. Am 24. Juli 1815 erschien eine Ordonnanz, die 19 zu Napoleon übergegangene Generale vor ein Kriegsgericht, 39 andere unter polizeiliche Aussicht stellte. Marschall Ney wurde, von den Pairs verurteilt, 7. Dez. erschossen. Eine zweite Ordonnanz schloß 29 Mitglieder der Pairskammer aus. Die 7. Okt. eröffnete Deputiertenkammer war, da die Wahlen unter dem Eindrucke dieser Massregeln vor sich gegangen waren, mit den fanatischsten Royalisten angefüllt, sodaß sogar der König mehrere ihrer Beschlüsse verwerfen mußte. Beide Kammern verschärften das von der Regierung eingebrachte Amnestiegesetz vom 6. Jan. 1816 dahin, daß alle, die für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt oder während der Hundert Tage Ämter angenommen hätten, auf ewig aus F. verbannt sein sollten. Die Folgen dieser und ähnlicher Maßregeln zeigten sich bald in den Unruhen und Blutscenen in den Städten des Südens. Die royalistisch Gesinnten, die sog. Verdets, erlaubten sich blutige Ausschreitungen in Marseille und Nîmes, Toulouse und Avignon, wo die Protestanten als Anhänger des Kaisers ermordet wurden (Terreur blanche). Die Angriffe der royalistischen Ultras in beiden Kammern auf die von Richelieu und Decazes geleitete gemäßigte Mehrheit des Ministeriums führten end-^[folgende Seite]