Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

113

Frankreich (Geschichte 1873-79)

oder Hoffnung einer baldigen monarchischen Restauration entgegensah. Die Prinzen des Hauses Orléans kehrten nach F. zurück; der Graf von Chambord (Heinrich V.) erschien zu einem längern Besuch auf seinem Gute Chambord, und die beiderseitigen Anhänger verhandelten wieder über eine Verschmelzung beider Linien. Diese wurde aber durch das Manifest Chambords 5. Juli, worin er erklärte, daß er die weiße Fahne Heinrichs IV. nicht preisgeben könne, zur Unmöglichkeit. Nun suchte Thiers sich der monarchisch gesinnten Majorität zu versichern, indem er immer mehr Männer von orleanistischer Färbung ins Kabinett berief. Der Republikaner Jules Favre trat zurück, und Charles de Rémusat übernahm 3. Aug. das Auswärtige Amt; später erhielt Casimir Perier (der Sohn) das Ministerium des Innern. Am 12. Aug. wurde aus dem linken Centrum der Nationalversammlung ein Gesetzentwurf eingebracht, der die Verlängerung der Vollmachten Thiers' auf drei Jahre mit dem Titel eines Präsidenten der Republik beantragte, unter gleichzeitiger Einsetzung eines verantwortlichen Ministeriums. Nach einer heftigen Debatte (30. und 31. Aug.) erfolgte die Annahme des Gesetzes mit 491 gegen 93 Stimmen. Dasselbe bestimmte, daß Thiers als "Präsident der Republik" die Exekutivgewalt ausüben solle unter der Autorität der Nationalversammlung, bis diese ihre Arbeiten beendet habe; er solle am Sitz der Versammlung residieren und auf Verlangen jederzeit von ihr gehört werden. Sowohl der Präsident wie die Minister, die dieser ernennt und entläßt, sollten vor der Nationalversammlung verantwortlich sein. Bald darauf vertagte sich die Versammlung vom 17. Sept. bis 4. Dez., nachdem sie für die Dauer der Ferien eine permanente Kommission von 25 Mitgliedern eingesetzt hatte.

Die nächsten Ziele der franz. Regierung und Nationalversammlung waren einerseits die möglichst baldige Befreiung des Landes von der feindlichen Besetzung und die Verbesserung des Militärwesens nach preuß. Muster, andererseits der Ausbau der Verfassung. Zur Bezahlung der zwei ersten Milliarden Kriegsentschädigung nahm Thiers im Juni 1871 eine Anleihe von 2500 Mill. Frs. und zur Abzahlung des Restes im Juli 1872 eine Anleihe von mehr als drei Milliarden auf. So war es F. möglich, durch raschere Zahlungen das Ende der Occupation früher herbeizuführen, als beim Friedensschluß in Aussicht genommen war. Nachdem die letzte Zahlung 5. Sept. 1873 geleistet war, verließen die letzten deutschen Truppen unter General Manteuffel das franz. Gebiet. Freilich schufen die hohen Zinssummen für das entliehene Kapital (750 Mill. Frs. gegen 350 Mill. vor dem Kriege) den Staatsfinanzen nicht geringe Verlegenheiten, sodaß Jahr für Jahr das Budget ein Deficit aufwies, das Thiers nur mühsam durch neue Steuern und Zölle (auch auf Rohstoffe) zu decken suchte. Trotzdem wurde die Militärreorganisation mit Nachdruck ausgeführt. Die Nationalversammlung bewilligte für diesen Zweck jede ihr angesonnene Summe und bot sogar der Regierung noch mehr Geld an als diese verlangte. Das Kriegsdienstgesetz vom 28. Juli 1872 führte die allgemeine Wehrpflicht in der Weise ein, daß ein Teil der Mannschaft zu fünfjähriger Präsenz, der andere zu sechsmonatigen Übungen verpflichtet war. Außerdem wurde eine Dienstzeit von vier Jahren in der Reserve und von elf Jahren in der Territorialarmee (Landwehr) festgesetzt. Dieses Gesetz wurde vervollständigt durch das Organisationsgesetz vom 24. Juli 1873 und durch das Cadresgesetz vom 13. März 1875. Durch jenes wurde die Zahl der Regimenter bestimmt (144 Regimenter Infanterie, 70 Regimenter Kavallerie, 28 Regimenter Artillerie) und diese unter 18 Armeekorps verteilt, wofür die kommandierenden Generale sofort ernannt wurden; ein 19. Armeekorps ward für Algerien errichtet und unter das Kommando des dortigen Generalgouverneurs Chanzy gestellt. Durch das Cadresgesetz wurden die Bataillonscadres in der Weise vermehrt, daß die Maximalstärke des Regiments auf 4000 Mann erhöht wurde. War dieses Gesetz durchgeführt, so bestand die franz. Infanterie aus 641 Bataillonen. Für den Revanchekrieg arbeiteten alle Parteien in F.; auch die Pläne der Jesuiten verbanden sich damit. Unter der Herrschaft der letztern sollte das gedemütigte F. wieder aufgerichtet, das Volk für den national-klerikalen Kreuzzug gegen Deutschland aufgestachelt werden. Wunderquellen (s. Lourdes), Wundererscheinungen, massenhafte Prozessionen, Absingung von Glaubensliedern mit einem Revancherefrain sollten den Fanatismus in einer gewissen Höhe erhalten. Die Klerikalen, von der Regierung meist begünstigt, gingen in ihren Forderungen immer weiter, bis ihnen zuletzt das Unterrichtsgesetz vom 12. Juli 1875 das Recht der Gründung "freier Universitäten" und der Teilnahme an der Erteilung der akademischen Grade zuerkannte, wodurch sie, die bereits den ganzen Volksunterricht und die Leitung der weiblichen Erziehung und Bildung in ihren Händen hatten, auch den höhern Unterricht und die Träger der höhern Bildung unter ihre Gewalt zu bringen hofften.

Weniger Einigkeit herrschte unter den Parteien, wo es sich um den Ausbau der Verfassung handelte. Die Monarchisten spalteten sich in Legitimisten, Orleanisten und Bonapartisten, und jede dieser drei Parteien hatte ihren besondern Prätendenten; die Republikaner bildeten gleichfalls drei Gruppen: gemäßigte, entschiedene und radikale Republikaner. So kam es, daß eine Dreißiger-Kommission, welche die konstitutionellen Gesetze ausarbeiten sollte, in der Versammlung keine Mehrheit fand. An diesen Schwierigkeiten nutzten sich mehrere Ministerien ab, und mit der Verfassung ging es nicht vorwärts. So viele Verdienste auch Thiers als Präsident der Republik hatte, so zürnten ihm doch die Monarchisten, weil er ihre Pläne nicht ausführte und in einer Botschaft vom Nov. 1872 die thatsächliche Republik dem Ungewissen vorzog. Als nun Thiers bei der Neubildung des Ministeriums 18. Mai 1873 die monarchische Mehrheit gar nicht mehr berücksichtigte und sein Kabinett nur noch aus den Reihen der gemäßigten Republikaner rekrutierte, beantragten die Monarchisten ein Tadelsvotum gegen ihn, das 24. Mai mit 360 gegen 344 Stimmen angenommen wurde. Darauf nahmen Thiers und dessen Minister ihre Entlassung, und Marschall Mac-Mahon wurde noch in der nämlichen Sitzung zum Präsidenten der Republik gewählt.

16) Unter der Präsidentschaft Mac-Mahons (1873-79). Der neue Präsident ernannte ein aus Legitimisten, Orleanisten und Bonapartisten zusammengesetztes Ministerium, worin der Herzog von Broglie den Vorsitz führte und das Auswärtige übernahm. Die neue Präsidentschaft schien nicht