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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte 1879-87)

neues Ministerium bildete, worin er neben dem Präsidium das Auswärtige übernahm, Ferry das Unterrichtsministerium behielt.

In der Session von 1880 lagen die Ferryschen Unterrichtsgesetze dem Senat zur Beratung vor. Er genehmigte sie, lehnte aber den wichtigsten Artikel (VII), wodurch den Mitgliedern der vom Staate nicht anerkannten Kongregationen verboten war, eine öffentliche oder private Unterrichtsanstalt zu leiten oder daran Unterricht zu erteilen, mit 149 gegen 132 Stimmen ab. Da dieser Artikel den Schwerpunkt des ganzen Gesetzes ausmachte, so hatte letzteres ohne jenen keinen Wert. Daher verlangten die Republikaner, daß die Regierung nach den Gesetzen von 1790, 1792 und 1804 gegen die Kongregationen verfahren solle. Ein solches Eingreifen war um so mehr geboten, da in F. 500 vom Staat nicht ermächtigte Kongregationen mit 22 000 Mitgliedern, darunter mehr als 7000 männlichen, bestanden, die Jesuiten 74 Lehranstalten und ein Personal von 1011 Mitgliedern hatten, die Zahl der von Ordensmitgliedern unterrichteten Schüler etwa 20000 betrug, wovon die Hälfte in Jesuitenanstalten war. Daher erließ auf Grund dieser Gesetze der Präsident Grévy 30. März 1880 zwei Dekrete, von denen das erste den Jesuiten befahl, binnen 3 Monaten ihre gesellschaftliche Verbindung aufzulösen und ihre Anstalten in F. zu räumen; das zweite alle nicht anerkannten Kongregationen aufforderte, binnen 3 Monaten bei der Regierung um die Prüfung und Genehmigung ihrer Statuten und Reglements und um die gesetzliche Anerkennung für jede einzelne ihrer bisher nur thatsächlich bestehenden Anstalten nachzusuchen. Da sämtliche Bischöfe Protestschreiben gegen diese Märzdekrete erließen und die Obern der Kongregationen in einer Versammlung vom 2. April beschlossen, die Statuten nicht mitzuteilen und die Autorisation nicht nachzusuchen, so entstand auch in F. ein "Kulturkampf". Zunächst wurden die Ordenshäuser der Jesuiten und ihre Lehranstalten geschlossen. Wegen der übrigen Kongregationen wurde mit dem päpstl. Stuhl unterhandelt. Die Kongregationen übersandten darauf der Regierung eine Erklärung, worin sie zwar ihre Achtung und Unterwerfung gegenüber den gegenwärtigen Staatseinrichtungen beteuerten, aber weder ihre Statuten vorlegten noch die staatliche Anerkennung nachsuchten.

Diesem Gebaren gegenüber ließ es die Regierung an dem nötigen Nachdruck fehlen und bedrohte damit selbst ihre Stellung. Andere Ereignisse schärften den Konflikt. Nachdem von beiden Kammern 9. Juli eine bedingungslose Amnestie bewilligt war, kehrten die Kommunarden und ihre Führer nach F. zurück, um den Kampf gegen die staatliche Ordnung von neuem zu beginnen. Der 14. Juli, der Tag der Erstürmung der Bastille, wurde in ganz F. als republikanisches Nationalfest gefeiert, und Gambetta, der sich mit Grévy und den Ministern nach Cherbourg zur Flotteninspizierung begeben hatte, hielt dort 9. Aug. eine scharfe Revancherede. Um dem Auslande gegenüber nicht in Verlegenheit zu geraten, stellten Grévy und Freycinet Gambettas Rede als den Ausdruck seiner persönlichen Ansichten dar, und Freycinet sprach sogar von einer "Abenteurerpolitik". Dies konnte ihm Gambetta nicht verzeihen, und namentlich sein Werk war die kurz darauf wegen Ausführung der Märzdekrete eintretende Ministerkrisis. Das Kabinett Freycinet nahm seine Entlassung, worauf 23. Sept. 1880 Ferry, der das Unterrichtsministerium beibehielt, die Präsidentschaft übernahm, während Barthélemy Saint-Hilaire Minister des Auswärtigen wurde und sechs Mitglieder des vorigen Ministeriums in das neue eintraten. Unter der Ministerpräsidentschaft Ferrys nahm der Vollzug der Märzdekrete einen raschern Verlauf. Die nicht autorisierten Kongregationen wurden aus ihren Klöstern ausgewiesen und diese geschlossen, wozu an manchen Orten Militär aufgeboten werden mußte. Immer mehr zeigte sich die Macht der "anonymen Regierung" Gambettas. Als Führer der zahlreichsten Fraktion, der Republikanischen Union, beherrschte er nicht bloß die Kammer, sondern durch diese auch das Ministerium und nötigte jedes Kabinett, das ihm nicht zu Willen war, zum Rücktritt. Sein Streben galt aber der Erringung des Postens eines Ministerpräsidenten und eines Präsidenten der Republik. Um für diesen Fall eine ihm ganz unterwürfige, von Monarchisten und Radikalen möglichst gesäuberte Kammer zu schaffen, wünschte er die Abschaffung der Arrondissementswahlen und die Einführung der Listenwahlen für die Abgeordnetenkammer. Während nach dem bisherigen Wahlgesetz jedes Arrondissement einen Abgeordneten wählte, sollten von nun an die Wähler eines ganzen Departements eine auf einer Liste verzeichnete Anzahl von Kandidaten auf einmal wählen. Da die Republikaner in den meisten Departements die Mehrheit hatten, so war sicher, daß durch die Listenwahl eine überwältigende Mehrheit von Republikanern gewählt werden würde, und die Anfertigung dieser Listen lag in der Hand Gambettas und seiner Anhänger. Der Abgeordnete Bardoux stellte also im Namen Gambettas den Antrag auf Wiederherstellung der Listenwahl, die schon in den J. 1848 und 1871 angewandt worden war, und die Kammer genehmigte denselben 19. Mai 1881 mit geringer Majorität, dagegen beschloß der Senat mit 148 gegen 114 Stimmen, in die Beratung der einzelnen Artikel des Antrags nicht einzutreten. Gambetta gab nun die Parole der teilweisen Verfassungsrevision aus, die sowohl die Listenwahl als auch eine Reform des Senats in sich schloß, obgleich der letztere in vielen wichtigen Dingen, wie in Vereins- und Preßangelegenheiten, in der Zollpolitik und in Budgetfragen in liberaler Weise mit der Kammer übereingestimmt hatte.

Inzwischen hatte F. auf dem Gebiete der äußern Politik einen Erfolg erzielt. Schon seit längerer Zeit hatte man in F. die Besetzung von Tunis ins Auge gefaßt, und April 1881 nahm F. die Einfälle des räuberischen Grenzstammes der Khrumir in Algerien zum Vorwand dafür. Etwa 30000 Mann rückten von Algerien aus in Tunis (s. d.) ein. Eine andere franz. Kolonne landete in Biserta, und General Bréard, der mit 4000 Mann vor dem Bardo des Bei erschien, zwang letztern 12. Mai, den Vertrag von Bardo zu unterschreiben, wonach er alle wichtigen Plätze den Franzosen übergab, die Verwaltung seines Landes durch franz. Beamte zuließ und dem franz. Ministerresidenten Roustan die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten der Regentschaft überließ. Um die Proteste der Pforte, die sich auf ihre Oberhoheitsrechte über Tunis berief, kümmerte sich F. nicht. Deutschland, Österreich und Rußland erkannten das Protektorat an; aber in England erwachte die maritime Eifersucht in voller Stärke, und Italien, in dessen Händen fast der