Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

124

Frankreich (Geschichte 1887-94)

Sitzen 42, die Boulangisten erhielten 49 Mandate. Die Untersuchung gegen Boulanger selbst hatte 13. Aug. mit seiner, Dillons und Rocheforts Verurteilung zur Deportation geendet und nebenbei die völlige Unfähigkeit des Generals zu der Mission zu Tage gefördert, die er sich in so viel hochtönenden Worten beigelegt hatte. Es zeigte sich auch bald, daß die "Boulange" gänzlich abgewirtschaftet hatte, als Ende April bei den Pariser Gemeindewahlen alle ihre Kandidaten bis auf einen einzigen durchfielen. Dies kam daher, weil auf eine Weisung des Grafen von Paris die Monarchisten nicht mehr für die Partei des diskreditierten Generals gestimmt hatten und die Bonapartisten ihn jetzt gleichfalls fallen ließen.

Diesen Zusammenbruch der Partei Boulangers hatte das Kabinett Tirard nicht mehr erlebt. Es hatte 14. März 1890 dem Präsidenten Carnot seine Entlassung überreicht. Schon 1. März war Constans daraus geschieden, wodurch Tirard seine wesentlichste Stütze in der öffentlichen Meinung verlor und sich beim ersten Anlasse zum Rücktritt bequemen mußte. Die Dimission Constans' hatte ihren Grund in einer Differenz mit dem Premierminister, der den Radikalen Zugeständnisse machte, die nur als Schwäche ausgelegt werden konnten. Insbesondere zeigte sich dies bei der Gelegenheit, als der junge Prinz Louis Philipp Robert von Orléans, ältester Sohn des Grafen von Paris, Anfang Februar in der Hauptstadt erschien und als Gemeiner in die Armee aufgenommen zu werden verlangte. Den Verbannungsgesetzen entsprechend ward er zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt, und Tirard ließ dies Urteil aus Rücksicht auf die Radikalen auch vollziehen. Das Wesentlichste war aber doch, daß er, der sich als Freihändler bekannte, sich einer Kammer gegenüber befand, die seit den letzten Wahlen vorwiegend aus Schutzzöllnern und Agrariern bestand. Als Tirard und der Minister des Auswärtigen Spuller den 13. März ablaufenden Handelsvertrag mit der Türkei, dessen Verlängerung von der Pforte nicht zu erlangen war, durch einen freien Verkehr auf der Grundlage der Meistbegünstigung ersetzen wollten, waren die Agrarier des Senats dagegen, weil sie die Weinbaugegenden durch die ungehinderte Einfuhr getrockneter türk. Beeren für geschädigt hielten. Sie interpellierten und erreichten, daß die von Tirard und Spuller beantragte einfache Tagesordnung 13. März 1890 mit 129 gegen 117 Stimmen abgelehnt wurde, worauf das Ministerium am folgenden Tage seine Entlassung nahm. Nun berief Carnot Freycinet zur Bildung eines neuen Kabinetts, worin dieser nebst dem Vorsitz das schon unter Floquet übernommene Kriegsportefeuille beibehielt, Constans das Innere wieder übernahm. Dieses neue Ministerium wurde von allen republikanischen Parteien, mit alleiniger Ausnahme der Ultraradikalen, sympathisch begrüßt. Unter solchen Umständen hatte das Ministerium freie Hand, nach seinem Ermessen zu schalten. Als sich die Anarchisten, von antisemit. und ultramonarchistischen Elementen angereizt, für den 1. Mai, den "Weltfeiertag", vorbereiteten, nahm die Regierung in Paris und Lyon zahlreiche Verhaftungen vor, den Prinzen von Orléans dagegen gab sie nach einigen Wochen (3. Juni) frei. Auch der zunehmende Wohlstand und der hohe Kurs der Rente kam der Regierung zu statten. Der Finanzminister Rouvier konnte jetzt sein Programm entwickeln, ohne im Budgetausschuß Widerstand zu finden, Steuererhöhungen vorschlagen und dem Plane, die eben fälligen sechsjährigen Schatzobligationen im Betrage von 700 Millionen, die zur Deckung des außerordentlichen Kriegsbudgets gedient hatten, mittels einer Emission von Rente einzulösen, die Zustimmung des Budgetausschusses gewinnen.

Dieser allgemeine Wohlstand ließ auch das herrschende System der abwartenden Friedenspolitik als das richtige erscheinen, wie es Carnot bei jeder Gelegenheit betonte. Erst als seit dem Sturze Bismarcks der deutsche Hof sich dem englischen näherte, wurde man in F. besorgt, und zwar um so mehr, als zur selben Zeit die Kriegsminister im deutschen Reichstage und in den österr.-ungar. Delegationen außerordentliche Geldopfer für militär. Zwecke als in den nächsten Jahren unabwendbar ankündigten. Man trachtete daraufhin in F., dem befreundeten Rußland nach Möglichkeit gefällig zu sein, um es völlig zu gewinnen. Am 29. Mai verhaftete man 15 Nihilisten, die Bomben und Sprengstoffe bereiteten und Attentate planten, stellte sie vor Gericht und verurteilte eine Anzahl derselben; man unterstützte die Politik des Zaren beim Vatikan und in Bulgarien und ließ es nicht an Demonstrationen fehlen, welche die Kampfbereitschaft F.s darthun sollten. Trotz dieser russenfreundlichen Kundgebungen wartete man in Paris dennoch lange vergeblich auf ein Zeichen der Gunst des Zaren. Endlich fand diese einen bestimmtern Ausdruck, als im Juli ein vom Admiral Gervais befehligtes Geschwader auf seiner Reise ins Baltische Meer vor Kronstadt vor Anker ging. Der Zar selbst empfing die franz. Offiziere, besuchte die Flotte und duldete es, daß bei den Verbrüderungsfesten und in seiner Gegenwart die Marseillaise gespielt wurde. In F. herrschte darüber heller Jubel. Ein russ. Anlehen von 500 Mill. Frs. wurde siebenfach überzeichnet, und das Selbstbewußtsein der franz. Machthaber war durch diese Annäherung Alexanders III. stark gehoben. Auch zu einer Erweiterung des afrik. Kolonialgebietes eröffnete in dieser Zeit ein Zwischenfall mit Dahome (s. d.) die Aussicht.

Unterdessen war es der opportunistischen Pariser Regierung gelungen, auch im Innern Erfolge zu erringen. In die Reihe der Souveräne, welche die Republik mit ihrer Neigung auszeichneten, stellte sich auch der Papst. Kardinal Lavigerie, der Erzbischof von Algier, hatte schon 1890 den Anschluß der franz. Geistlichkeit an die Republik für nützlich erachtet, um Einfluß auf die Regierung zu erlangen und das Interesse der Kirche zu fördern. Leo XIII. erklärte sich (aus Abneigung gegen den Dreibund) mit diesem Gedanken einverstanden und empfahl den Gläubigen F.s, die republikanische Staatsform und ihre Gesetze zu achten. Damit sahen sich die franz. Monarchisten eines starken Rückhalts beraubt. Dazu kam, daß zwei der monarchischen Sache dienende Persönlichkeiten kurz nacheinander starben: Prinz Napoleon 17. März und Boulanger 30. Sept. 1891. Ein weiteres Eingreifen des Heiligen Vaters zu Gunsten der Republik geschah in einem Schreiben des Staatssekretärs Kardinal Rampolla vom 5. Jan. 1892 an den Erzbischof von Paris, das die Aufforderung enthielt, sich zur Wahrung der kirchlichen Interessen auf den Boden der republikanischen Verfassung zu stellen, worauf der Episkopat in einer Kundgebung vom 20. Jan. sich bereit erklärte, gegen die Staatsform keine Opposition machen zu wollen.