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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Neufranzösische Periode 1830-48)

wieder zu dem Ansehen verhalf, das die romantischen Poeten und Kritiker geschmälert batten. Bei der Stimmung des gebildetern Publikums konnte es nicht fehlen, daß Ponsard mit seiner Tragödie "Lucrèce" (1843) außerordentliches Glück machte; sie zeigte eine Annäherung an die einfache Formenschönheit, die keine Reaktion nach dem Klassicismus hin, sondern vielmehr eine Verschmelzung der romantischen und klassischen Schule und die Grundlage einer neuen Richtung, der sog. École du bon sens, sein sollte. Als Lustspieldichter beherrschte seit der Julirevolution Scribe mit seinen bürgerlichen Sittenstücken und histor. Intriguenkomödien die Bühne. Dichtungen von bleibendem Wert schuf A. de Musset in seinen graziösen Salonkomödien und dramat. Sprichwörtern. Für den starken Verbrauch der hauptstädtischen Bühnen sorgten fleißig Bayard, Mélesville (H. J. Duveyrier), Saintine, Biéville u. a. Populäre Stücke lieferten Dumersan, Delaporte, Duvert und Lauzanne nebst ihren Mitarbeitern Xavier, Dupeuty, Rozier, Lockroy (Verfasser der drei merkwürdigsten Stücke des damaligen franz. Genretheaters: "Passé minuit", "Trois épiciers" und "Périnet Leclerc"), Dumanoir und Clairville.

Größere Beachtung als dem Drama kommt dem Roman zu, der jetzt die für alle Zwecke verwendbare poet. Form wird. Hier äußern sich am tiefsten in der Weiterentwicklung der F. L. die Folgen der romantischen Bewegung. Der histor. Roman erreicht den Höhepunkt mit V. Hugos "Notre-Dame" (1831); diese Mischung abenteuerlicher Romantik, grotesker Charakteristik mit archäol. Realismus bietet ein Beispiel von Detailschilderung, die von Balzac (1799-1850) in den von ihm geschaffenen modernen Sittenroman übertragen wird. Der Sittenroman verdrängt den Geschichtsroman und ersterer erbt von den Romantikern außer der realistischen Schilderung auch die zergliedernde Darstellung des Seelenlebens, denn mehrfach schon hatte man das Werthermotiv variiert und innere Kämpfe und Seelenleiden zum Vorwurf der Dichtung gemacht. Balzac, der aus physiol. Vorbedingungen seine Psychologie entwickelt ("Eugénie Grandet", 1834; "Le père Goriot", 1835), wurde der Vater des spätern Naturalismus, dagegen sind die Romane von George Sand polemische Herzensergüsse und idealistische Seelengemälde, in denen die Forderung befreiter Sinnlichkeit mit den Bedürfnissen des geistigen Lebens motiviert wird. Weniger geräuschvoll waren die Erfolge der künstlerisch abgerundeten romantischen Novellen Mérimées und der meisterhaften Erzählungen A. de Mussets. Eine beispiellose Fruchtbarkeit entwickelte A. Dumas, der seit den vierziger Jahren für das Unterhaltungsbedürfnis der weniger anspruchsvollen Leser sorgte. Neben ihm wirkten Gozlan, Louis Reybaud, Ponson du Terrail; E. Sue führte den Seeroman ein und ging dann zum socialistischen Roman über, dem sich auch George Sand eine Zeit lang widmete; glücklicher war letztere in der Dorfgeschichte, die sie zuerst in Frankreich behandelte. Im Geiste Nodiers, bloß mit dem Anspruch, als liebenswürdige Erzähler zu gelten, schrieben J. Sandeau, E. Souvestre u. a. Eine isolierte Stellung nimmt der paradoxe Sensualist Beyle (Stendhal) ein, dessen Romane eigentlich erst bei der folgenden Generation Anerkennung gefunden haben. Paul de Kock endlich lieferte in seinen leichtfertigen Erzählungen unbewußt Material zur Sittengeschichte des Pariser Kleinbürgers der Epoche.

Im Fach der Geschichtschreibung erschienen zwar 1830-48 keine so bedeutenden gewichtigen Werke wie in den letzten Jahren der Restauration, jedoch gingen diese 18 Jahre nicht ganz unfruchtbar vorüber. Wenn Guizot und Barante sich ausschließlich der Politik zuwandten, so setzten Augustin Thierry und Mignet ihre histor. Arbeiten fort, und Thiers schrieb die ersten Bände seiner "Histoire du Consulat et de l'Empire" (von 1845 an). Michelet begann nach einem neuen Plane die franz. Geschichte, die auch von Henri Martin trefflich bearbeitet wurde. Einzelnen Teilen der franz. Geschichte widmeten ihre Forschung unter vielen andern Amédée Thierry, Bazin, Droz, Barante. Ein hervorragender Platz gebührt Sainte-Beuves trefflichem "Port Royal"; die Geschichte der Französischen Revolution wählten zum Gegenstande Armand Marrast, jakobinischer Republikaner, Cabet, kommunistischer Utopist, Buchez, Roux u. a. Die socialistische "Révolution française" (1847-62) und die "Histoire de dix ans" (1841-44) von Louis Blanc, letztere ein glänzender Versuch, die Geschichte der Gegenwart zu behandeln, beseelt ein kräftiger Haß auf die Bourgeoisie. Von den Erscheinungen der Memoirenlitteratur sind anzuführen die "Mémoires du maréchal Ney", die Memoiren von Lamarque, Grégoire, Lafayette und Barrère. Wichtig für die Geschichte der ältern F. L. ist die weitere Fortsetzung der "Histoire littéraire de la France" durch Mitglieder der Akademie der Inschriften. Nennenswert sind ferner die litterarhistor. Schriften von Nisard, Fauriel, Ampère und Magnin. Unter den Kunstrichtern, die in Journalen und Revuen aller Art thätig waren, zeichneten sich aus: de Sacy, Sainte-Beuve, Saint Marc Girardin, Philarète Chasles, Génin, Théophile Gautier. Ein wichtiges Ereignis war (1831) die Begründung der "Revue des Deux Mondes" (s. d.), die bald zu einem Sammelpunkt für das vornehme geistige Leben Frankreichs wurde.

Nirgends bewirkte die Julirevolution größere Veränderungen als in der franz. Journalistik. (Vgl. Frankreich, Zeitungswesen, S. 77 b fg.) Vorher hatten die Journale bei dem außerordentlichsten Einfluß auf die öffentliche Meinung nur eine beschränkte Publizität. Das Journal war ein Luxusartikel; es wandte sich bloß an den legitimistischen Adel und an die herrschende Bourgeoisie. Alle Blätter, die als Organe der reinen Demokratie auftraten und tiefer als in die beiden erwähnten Schichten der Gesellschaft hinabdringen wollten, konnten die nötige Zahl von Abonnenten nicht erhalten. Girardin jedoch kehrte dadurch, daß er die Vierzigfrankenpresse schuf, die Grundlagen des franz. Zeitungswesens völlig um. Die alte Achtzigfrankenpresse schöpfte ihre Kraft aus polit. Ideen; sie stützte sich auf ein gewisses System von Meinungen und hielt sich streng in einer bestimmten Richtung; die neue Vierzigfrankenpresse, die sog. "Junge Presse" (la jeune presse), erhielt die Neugierde des großen Lesepublikums zur Basis und zum Grundprincip ewige Veränderung und Unterhaltung und machte die Politik abhängig von der einträglichsten Nutzung und Ausbeutung des Blattes. Das Feuilleton, der untergeordnete Teil des Journals, wurde nun Hauptsache und durch die Mitteilung von Romanen der anziehendste Teil des Blattes. Trotz aller Zunahme der Leser und Abonnenten verlor die Presse an polit. Bedeutung und finanzieller Einträglichkeit, und in ihrer blinden Spekulationswut wurde sie der Haupt-^[folgende Seite]