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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Neufranzösische Periode 1848-70)

unbestechlicher Wahrheitsliebe, der in Werken von einfachem Aufbau, aber packender Wirkung den unheilvollen Einfluß darstellte, den die in der Presse und an der Börse wuchernde "tripotage" aus Gesellschaft und Familie ausübte, während A. Dumas (Sohn), in seinen sog. Thesenstücken mit Vorliebe Zerrüttungen des Familienlebens behandelnd, in den Vorreden zu seinen Komödien als Prediger erscheint, "dessen Obhut die Seelen anbefohlen sind", in seinen Stücken selbst durch geschickte Technik besticht und durch glänzende Dialektik den Schein unerbittlicher Folgerichtigkeit zu erzielen und über die Schwächen seines sittlichen Standpunkts hinwegzutäuschen weiß. An dem Tage, wo er die aus seinem gleichnamigen Roman geschöpfte "Dame aux camélias" (1852) als ein dem Leben entnommenes naturgetreues Sittenbild auf die Bühne brachte, veranlaßte er einen Umschwung, der mit seinem "Demi-monde" (1855) zum Siege gelangte und dem "Realismus", wie man das jetzt nannte, die Herrschaft übergab. Neben diesen beiden Größen der damaligen Bühnendichtung nimmt Sardou eine geachtete Stellung ein als Verfasser humorvoller Sittenkomödien, in denen er durch beispiellos geschickte Mache unwahrscheinliche Handlungen und Charaktere annehmbar zu machen versteht, während Octave Feuillet als feiner Charakterzeichner vornehmer Frauen in seinen Lustspielen und als glücklicher Nachfolger Mussets in seinen anmutigen und graziösen "Proverbes" erscheint. Die Verskomödie hat in dieser Zeit nur noch einigen Erfolg in zwei Stücken Ponsards: "L'honneur et l'argent" (1854) und "La bourse" (1856). Denn weil man im wirklichen Leben nicht in Versen spricht, wurde der prosaische Vortrag in allen realistischen Bühnenstücken gebräuchlich. Eine neue, erfolgreiche, in Versen geschriebene Tragödie ist während dieses Zeitraums nicht auf der Bühne erschienen. Das alte Vaudeville im Geschmack Désaugiers und Scribes, d. h. das Vaudeville mit kleinen Liedern und Arien (Vaudeville à couplets), verschwand gänzlich. Labiche, Meilhac und Ludovic Halévy und nach ihnen Gondinet und Pailleron haben zur Veränderung des Geschmacks in diesem untergeordneten, aber echt nationalen dramat. Genre am meisten beigetragen, indem sie die Stoffe dafür der Gegenwart entnahmen, d. h. den anziehenden und pikanten Bestandteil der heutigen kleinen Charakter- und Sittenkomödie hineinbrachten und auf diese Weise das Vaudeville dem gewöhnlichen Lustspiel annäherten. Den für diesen Zeitraum charakteristischen Ersatz des Liederspiels lieferten eigentlich die Operetten Offenbachs, für die Halévy und Meilhac die possenhaften und leichtfertigen Texte schrieben.

Auf dem Gebiete des Romans bilden die Herzens- und Idealromane G. Sands Kundgebungen gereifter und abgeklärter Kraft ("Le marquis de Villemer", 1861 u. a.); die "Revue des Deux Mondes" veröffentlichte anständige, gemütvolle Sittenromane von Jules Sandeau, die von weltmännischer Moral getragenen, mit Feinheit ausgeführten Charakter- und Gesellschaftsbilder aus der vornehmen Welt und die etwas preciösen Sonderlingsgeschichten des Genfers Victor Cherbuliez ("Le comte Kostia", 1863); als glänzende Stilisten und erfindungsreiche Erzähler zeichneten sich Edmond About, Arsène Houssaye und Ch. Monselet aus. Das Leben der "Bohème", der Künstler und Litteraten schilderte H. Murger, während Erckmann-Chatrian die Dorfgeschichten G. Sands nachahmten und in einfacher und kraftvoller Weise Land und Leute ihrer Elsässer Heimat darstellten mit dem geschichtlichen Hintergrunde der Revolutionszeit und des ersten Kaiserreichs ("Maître Daniel Rock", 1861; "Madame Thérèse", 1863; "L'ami Fritz", 1864). Jules Verne fand außerordentlichen Beifall mit seinen Abenteuer- und Reiseromanen, in denen er in eigentümlicher Art naturwissenschaftliche Exaktheit mit ausschweifender Phantastik vermählte ("Cinq semaines en ballon", 1863). Andererseits verwirft man die Willkür der Phantasie und die idealistische Darstellung als wahrheitswidrig und will nur die physische und physiol. Wirklichkeit gelten lassen. Diese Richtung hat ihren Anknüpfungspunkt an Balzac. Von durchschlagender Wirkung war Flauberts "Madame Bovary" (1857), wo zum erstenmal peinlichste Genauigkeit der Darstellung mit kühler Objektivität und überlegener Erzählungskunst sich verbindet. E. Feydeaus "Fanny" (1858) zeigt daneben schon den ganzen naturalistischen Schmutz. Der Fahne des Realismus folgen A. Dumas (Sohn), Champfleury (Jules Fleury-Husson), Hector Malot und vor allen die Brüder Jules und Edmond Goncourt mit ihren von bedeutender Darstellungsgabe zeugenden, aber trostlosen Schilderungen verkommender und verkommener Existenzen ("Renée Mauperin, 1864; "Germinie Lacerteux", 1865). Der Feuilletonroman endlich, den E. de Girardin zuerst in seiner "Presse" eingeführt hatte, befriedigt auch in dieser Periode das Unterhaltungs- und Erregungsbedürfnis zahlreicher Leser. Dem Beispiel A. Dumas' (Vater) folgen Paul Féval, der nach 1870 ein gläubiger Moralschriftsteller wurde, E. Feydeau mit der schmutzigen Abart des Unterhaltungsromans, Ponson du Terrail, Xavier de Montépin, Gaboriau mit ihren Schauer-, Verbrecher- und Polizeiromanen, A. Bélot, Assollant u. a. m. Ungemeines Aufsehen machte 1862 der phantastische Socialroman "Les Misérables" von V. Hugo, gegen den seine übrigen erzählenden Werke dieser Zeit weit zurückstehen.

In der Geschichtschreibung behaupten die alten Namen noch immer den ersten Rang. Thiers, Michelet und Louis Blanc vollendeten die letzten Bände ihrer großen Geschichtswerke. Mignet ließ eine Geschichte der Maria Stuart, des Klosterlebens des Kaisers Karl V., der Rivalität Franz' I. und Karls V. erscheinen, Cousin eine Reihenfolge histor. Studien über die Frauen und geselligen Zustände des 17. Jahrh. in Frankreich, Vaulabelle eine Geschichte der Restauration, Henri Martin eine Geschichte Frankreichs, Théophile Lavallée eine gediegene "Histoire des Français"; Lanfrey vernichtete in seiner, nicht vollendeten, "Histoire de Napoléon Ier" die Napoleonische Legende, während Napoleon III. in seiner "Histoire de César" die "organisierte Demokratie" unter erwähltem Oberhaupt verherrlichte, Laboulaye in der "Histoire des États-Unis" mit Begeisterung die republikanische Selbstregierung schilderte und der Herzog von Broglie den liberalen Konstitutionalismus vertrat und in dem Werke "L'Église et l'Empire main^[richtig: romain] au IVe siècle" für das kath. Interesse schrieb. Renan setzte sein Hauptwerk über den Ursprung des Christentums fort, Boissier und Martha verfaßten geschmackvolle und gründliche Schriften über das röm. Altertum. Das Memoirengenre lieferte einen nicht unbeträchtlichen Zuschuß: Châteaubriands