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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Französische Philosophie

sophie. In den Zeiten der Scholastik, von Anfang des 12. bis in die Mitte des 14. Jahrh., war Paris der Mittelpunkt einer weitgreifenden philos. Regsamkeit; dort hauptsächlich wurden die großen Kämpfe zwischen der Scholastik und Mystik, dem Nominalismus und Realismus, dem Kirchenglauben und der nach Freiheit und Selbständigkeit strebenden Forschung gekämpft, und die Repräsentanten dieser Kämpfe, Roscellin (s. d.), Wilh. von Champeaux, Abälard (s. d.), Hugo und Rich. von Saint-Victor, Thomas von Aquino u. a., waren entweder selbst Franzosen oder lernten und lehrten in Paris. Während in der Folgezeit die Pariser Universität der Herd der orthodox-kath. Philosophie blieb und die auflösenden Elemente des scholastischen Denkens, die besonders in England ihren Sitz hatten, ablehnte, diente doch zur Erschütterung des mittelalterlichen Denkens auch hier einerseits die durch Lefèbre (Faber) und Bouillé (Bovillus) geförderte Erneuerung der Studien des klassischen Altertums, andererseits die von Calvin hervorgerufene religiöse Reformation. Durch beide gleichmäßig angeregt, entwickelte Pierre de la Rameé (Petrus Ramus, s. d.) im ausgesprochenen Gegensatze gegen den Aristotelismus der Scholastiker eine "neue", jedoch wesentlich rhetorische und formalistische Logik, die aber in der Bewegung der Zeit, auch außerhalb Frankreichs, eine große Rolle spielte. In der so gewonnenen Freiheit des Denkens trat Jean Bodin (s. d.) als Verteidiger der Toleranz und Begründer einer von der Kirchenlehre unabhängigen Rechtsphilosophie auf; in derselben Zeit begann Montaigne (s. d.) jene feinsinnig skeptische Litteratur, die eine specifische Eigentümlichkeit der Franzosen geblieben ist, mit seinen geistreichen Essays, welche Welt- und Menschenkenntnis mit liebenswürdigster Darstellungsgabe verbinden. Dadurch gewann die franz. Bildung den skeptischen Grundzug, obwohl die folgenden Skeptiker, Charron (s. d.), Sanchez, de la Motte le Vayer, Huet (s. d.), diese Skepsis mehr oder minder für den Offenbarungsglauben ausnutzten, sodaß sich später sowohl die orthodoxen Kirchenlehrer, wie Bossuet (s. d.), als auch die Mystiker, wie Pascal (s. d.) und Poiret, darauf stützen konnten.

Von dieser skeptischen Stimmung (de omnibus dubitandum) ging dann auch das größte philos. Genie Frankreichs, Descartes (s. d.), aus, aber nur um sie zu überwinden, indem er in der Gewißheit der mathem. Erkenntnis die Rettung fand und nach diesem Ideale auch die Philosophie umzugestalten und zu einer Universalwissenschaft zu machen suchte. Wie die Mathematik von der Anschauung des Raums, so sollte diese Philosophie vom Selbstbewußtsein (cogito, ergo sum) ausgehen, um von da aus auf synthetischem Wege alle gewisse Erkenntnis zu deduzieren, eine Methode, die sich von der empirischen Induktion ebenso weit wie von der Aristotelischen Syllogistik entfernt hielt. Der Entwurf dieses Systems sowie die lebhafte Korrespondenz, welche Descartes mit den gleichzeitigen Gelehrten unterhielt, brachte eine ausgedehnte wissenschaftliche Bewegung in Frankreich und in den Niederlanden hervor. Es war vor allem auch die Frage über den Zusammenhang von Leib und Seele, die bei dem schroffen Dualismus von ausgedehnten und denkenden Substanzen in der Lehre des Cartesius offen geblieben war und nun mannigfache Diskussionen anregte; es mischten sich endlich die religiösen Debatten zwischen Jansenismus und Jesuitismus in diese Verhandlungen hinein. Von den dem Cartesianismus näher stehenden Männern sind Louis de la Forge (Arzt zu Saumur), Ant. Arnauld und Pierre Nicole (beides Theologen von Port-Royal) zu erwähnen, während Nicole Malebranche (s. d.), ähnlich wie in Holland Arnold Geulincx (s. d.) und Spinoza (s. d.), die Cartesianische Methode konsequenter durchzuführen suchte und dabei zu einem dem Mysticismus nahestehenden Intellektualismus gelangte. Der bedeutendste Gegner von Descartes war jedoch Gassendi (s. d.), der den antiken Atomismus erneuerte und durch den großen Einfluß, den er in Frankreich und in England gewann, den Grund für die materialistische Richtung des 18. Jahrh. legte. Mit beiden Richtungen gleichmäßig verbanden sich die mathem. und naturwissenschaftlichen Studien, denen Fontanelle das Interesse der höhern Stände zugewandt hatte, wie denn überhaupt um diese Zeit am franz. Hofe jene Salonphilosophie herrschend wurde, die zwar geistreich und graziös, aber doch meistens flach und ohne wissenschaftlichen Ernst Welt und Leben, Moral und Politik mit spielender Skepsis zersetzte und die Quelle ihrer Anschauungen in Larochefoucaulds (s. d.) "Maximen" fand. Um so segensreicher war es, daß die große Verbreitung von Bayles (s. d.) Lexikon nicht nur einen Schatz realer Bildung, sondern auch den ernsten moralischen Sinn in weite Kreise trug, mit dem er, den Widerspruch zwischen dem religiösen Dogma und der Wissenschaft überall hervorkehrend, das religiöse Leben auf das sittliche Ziel zu lenken suchte und, die Unabhängigkeit des moralischen Wertes von theoretischen Glaubensmeinungen betonend, für sociale wie polit. Verhältnisse die edelste Toleranz predigte.

Was das 17. Jahrh. begonnen, setzte das 18. fort, mit dem Unterschiede jedoch, daß, während in jenem die Engländer ihre Bildung zum Teil aus Frankreich gezogen hatten, nun in diesem der Einfluß der engl. Philosophie in Frankreich bemerkbar wurde. Dabei wurden aber die Gedanken, die in England einem exklusiven Kreise der höhern Gesellschaft angehörten, auf franz. Boden zu leidenschaftlich benutzten Agitationsmitteln in der wachsenden Opposition gegen die argen Übelstände auf staatlichem und kirchlichem Gebiet, sodaß die F. P. des 18. Jahrh. auf das innigste mit dem Werden der Französischen Revolution verknüpft ist. Einerseits war es die Newtonsche Naturphilosophie, die, durch Voltaire den Franzosen übermittelt, ihrer mathem. Richtung sympathisch war und die mechan. Naturauffassung, wie Maupertuis beweist, in den Vordergrund rückte. Damit verband sich ganz im Sinne Newtons eine teleologische Naturbetrachtung, die gerade in der mechan. Vollkommenheit des Universums den Beweis für die göttliche Urheberschaft desselben finden wollte, und so konnte Voltaire zugleich der weithin wirkende Apostel des Deismus und der charakteristische Vertreter der Aufklärungsphilosophie sein. Andererseits fanden die materialistischen Principien von Hobbes in dem Vaterlande Gassendis ein lebhaftes Echo, und Lamettrie (s. d.) sprach sie mit völliger Rücksichtslosigkeit aus. Diese Weltanschauung fand denn auch ihre Erkenntnistheorie, als Condillac (s. d.) die empiristische Psychologie Lockes in Frankreich bekannt machte und zum Sensualismus umbildete. Dieser wurde bald das allgemeine Dogma der franz. Denker; ihm huldigte der Ästhetiker Batteux (s. d.); zu ihm bekannten sich