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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Freihandelspartei

mittels Verordnungen, denen der sonst so gefügige Gesetzgebende Körper oft nur mit Widerstreben hinterher seine Zustimmung gab, und schließlich warf er aus eigener Machtvollkommenheit das ganze System über den Haufen, indem er seit 1860 von seinem Rechte, Handelsverträge abzuschließen, den ausgedehntesten Gebrauch machte. Dem bereits erwähnten Vertrage mit England folgten ähnliche Verträge mit Belgien, Italien, der Schweiz, dem Deutschen Zollverein, Österreich u. s. w., und da zugleich diese Staaten unter sich wieder Verträge auf ähnlichen Grundlagen schlossen, so entstand ein neues, fast ganz Europa außer Rußland umfassendes handelspolit. System von gemäßigt freihändlerischem Charakter. Alle beteiligten Staaten gewährten sich gegenseitig das Recht der meistbegünstigten Nation, sodaß alle Zugeständnisse, die bei einem neuen Vertragsabschlusse gemacht wurden, ohne weiteres auch den übrigen Beteiligten zufielen. Frankreich erhielt auf diese Art neben seinem alten prohibitiven Tarif, dem sog. Generaltarif, einen besondern Konventionstarif, der keine Einfuhrverbote und nur noch Schutzzölle enthielt, die etwa 15‒25 Proz. des Wertes darstellten. Der letztere galt nur für die Staaten des Vertragssystems, der erstere blieb also namentlich für Rußland und die Vereinigten Staaten in Kraft. Trotz der freihändlerischen Richtung der franz. Wissenschaft und des größten Teils der Presse wollten sich die franz. Produzenten, landwirtschaftliche wie industrielle, im ganzen mit dieser handelspolit. Reform nicht befreunden, und in den letzten Tagen des Kaiserreichs, als es sich um die Frage der Erneuerung des Vertrags mit England handelte, trat die antifreihändlerische Strömung schon mächtig hervor. Als nach 1870 Thiers und der Finanzminister Pouyer-Quertier, beide eifrige Anhänger des Schutzsystems, eine Neubildung des franz. Tarifs in Angriff nahmen, schien eine Zeit lang der völlige Untergang des Napoleonischen Systems bevorzustehen, und auch nach dem Rücktritt Thiers’ war die F. nicht im stande, den gewonnenen Boden zu behaupten. Die Handelsverträge wurden nach Ablauf der festgesetzten Zeit gekündigt und nur provisorisch je auf ein Jahr in Kraft gelassen. Mittlerweile fanden mehrere Jahre hindurch Enqueten und Beratungen von Tarifentwürfen statt, bis endlich der neue Generaltarif vom 7. Mai 1881 zu stande kam. Derselbe enthielt allerdings nicht die Prohibitionen des frühern, aber durchweg hohe Schutzzölle. Dieselben wurden freilich für diejenigen Staaten, welche nunmehr neue Handelsverträge mit Frankreich schlossen, wieder ermäßigt, jedoch blieb der neue Konventionstarif im ganzen protektionistischer als der frühere. Mit dem Ablauf der Handelsverträge 1891 ist Frankreich durch die Annahme eines komplizierten Doppeltarifs – eines Maximal- und Minimaltarifs – noch mehr ins schutzzöllnerische Fahrwasser geraten (Gesetz vom 11. Jan 1892). An Stelle der Handelsverträge soll für diejenigen Staaten, welche der franz. Einfuhr Vergünstigungen gewähren, der Minimaltarif zur Anwendung kommen, wobei es nicht ausgeschlossen ist, daß durch besondere Vereinbarungen (sog. conventions commerciales) noch weitere Ermäßigungen stattfinden. Für Deutschland bleibt natürlich das im Frankfurter Friedensvertrag (Art. 11) 1871 gegenseitig zugestandene Verhältnis der meistbegünstigten Nationen, insoweit es Verträge mit England, Belgien, Niederlande, Schweiz, Österreich und Rußland betrifft, bestehen. Eine Herabsetzung einzelner Positionen des Minimaltarifs bei Gelegenheit der Vertragsverhandlungen mit der Schweiz ist an dem Widerstand der franz. Deputiertenkammer gescheitert, weshalb sich die Schweiz seit 1893 mit Frankreich in einem Zollkrieg befindet. Im Gegensatz zu der schutzzöllnerischen Richtung der franz. Staatsmänner und Parlamente stehen merkwürdigerweise heute noch die namhaftesten Wirtschaftstheoretiker Frankreichs auf freihändlerischem Standpunkte und bekämpfen die protektionistische Politik.

In Deutschland waren die freihändlerischen Interessen von alters her weit stärker als in Frankreich. Sie fanden nicht nur in den Hansestädten und den Seestädten überhaupt, sondern bis zur neuesten Zeit auch in der Landwirtschaft, namentlich in dem Getreide exportierenden Osten, eine energische Vertretung. Allgemein vollends war der Wunsch verbreitet, daß wenigstens im Innern des deutschen Gebietes durch Wegräumung aller territorialen Zölle volle Verkehrsfreiheit hergestellt werde, und von Jahr zu Jahr wuchs auch die Zahl derjenigen, welche die Beschränkungen der gewerblichen Freiheit und die Reste des Zunftwesens, die sich namentlich in einigen kleinern Staaten noch erhalten hatten, als unzeitgemäß erkannten und beseitigt wissen wollten. Gleichwohl konnte bei den frühern öffentlichen Zuständen Deutschlands von der Organisation einer politisch aktiven F. keine Rede sein. Wie der liberale Tarif von 1818, so war die allmähliche Ausbildung des Zollvereins (s. d.) gleichfalls ein Werk der Regierungen, namentlich der preußischen, und auch später blieb die Tarifpolitik des Zollvereins bei dessen auf dem liberum veto aller Mitglieder beruhenden Verfassung der direkten parlamentarischen Einwirkung entzogen. 1842‒46 trat eine ziemlich eingreifende protektionistische Umbildung des Tarifs ein. Doch blieb Preußen im ganzen freihändlerischer als der Süden, und es brachte seine Tendenz 1865 endlich zum Siege, indem es den Handelsvertrag mit Frankreich durchsetzte, den es schon 1862 zunächst in seinem eigenen Namen vereinbart hatte. Mittlerweile war eine eigentliche organisierte F. hervorgetreten, welche die preuß. Politik lebhaft unterstützte und sowohl durch den seit 1858 jährlich als Wanderversammlung stattfindenden «Kongreß deutscher Volkswirte» als auch durch zahlreiche Vereine, Zeitungen und Bücher eine lebhafte Agitation unterhielt. Ihr Ziel war nicht nur der Freihandel nach außen, sondern auch Herstellung der vollen wirtschaftlichen Freiheit im Innern, verbunden mit der Entwicklung des Geistes der Selbstverantwortlichkeit, Selbsthilfe und Selbstverwaltung. Zu den bekanntesten Vertretern dieser deutschen F. gehörten Prince-Smith, Faucher, Michaelis, Braun-Wiesbaden, Bamberger, M. Wirth, A. Meyer, O. Wolff u. a. Ihre eigentlichen Erfolge hatte die Partei indes erst nach den Ereignissen von 1866 aufzuweisen, nachdem der Zollverein neue Grundlagen erhalten und in dem Zollparlament (s. d.) eine wirtschaftliche Volksvertretung geschaffen worden war. Jetzt begann die «Ära Delbrück», so genannt nach dem Präsidenten des Bundes- und später des Reichskanzleramtes, dem Fürst Bismarck ein Jahrzehnt hindurch die Leitung der Wirtschaftspolitik überließ. Es ist unzweifelhaft in dieser Periode sehr viel Nützliches zu stande gekommen, obwohl man an einzelnen Stellen zu rasch