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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Freycinet (Louis Claude Desaulses de)
wissenschaftlichen Kreise und der höhern Staats-
beamten auf ihn lenkte. Nach dem Sturze des Kaiser-
reichs trug F. dem Minister Gambetta seine An-
sichten über die Lage und die Hilfsmittel Frankreichs
persönlich vor, worauf 6. Sept. 1870 feine Ernen-
nung zum Präfekten des Depart. Tarn-et-Garonne
erfolgte, zu dessen Generalrat er gehörte. Als Gam-
betta Anfang Oktober zu Tours neben der Ver-
waltung des Innern auch das Kricgsministerium
übernahm, berief er fogleich F. als "perfönlichen
Delegierten des Kriegsministers" an seine Seite.
F. nahm nicht nur teil an der Aufstellung aller auf
militär. Angelegenheiten bezüglichen Entwürfe
Gambettas, sondern verlieh diefen Entwürfen durch
die selbständige Behandlung der Allsführungsvor-
schriften erst Gestalt und Leben. Gambettas bestän-
dige Eingriffe in die Führung der im Felde stehen-
den Armeen brachten bald Reibungen zwifchen den
franz. Heerführern und F. zu Wege, insbesondere im
Bereiche der ersten Loirearmee des Generals Aurelle
de Paladines. Wie Bedeutendes F. in seiner schwie-
rigen Stellung damals geleistet hat, ist seinem
Werke "I^a. FN6i'i'6 6ii province penäant I0 L16F6
äs rai'18,1870-71" (Par. 1872; deutsch, Bresl.
1872) zu entnehmen. Die schnelle Einrichtung des
Feldtelegraphen- und Feldeisenbahndienstes bei den
neuerrichteten franz. Heeren, fowie die reichliche
Ausstattung der Stäbe und Truppen mit brauch-
baren Karten sind lediglich der Thätigkeit F.s zu-
zuschreiben, dessen reiche Begabung für Strategie
und militär. Organifation hierbei zu Tage trat.
Allerdings ist wohl auch die unglückliche Erpedition
Bourbakis gegen Osten ihm zur Last zu legen, und
man wird bei der Beurteilung seiner damaligen
Wirksamkeit die Schrift Aurelle de Paladines',
"(^inpaAQ6 (16 1870-71. 1^3. prsmii'i e armL" l?6
1a I^oirs" (Par. 1872; deutfch, Wolfenb. 1874), zur
Kontrolle feiner Darstellung heranziehen müssen.
Bei den Ergänzungswahlen im Juli 1871 kan-
didierte F., erhielt jedoch kein Mandat und trat
wieder in den Eifenbahndienst zurück; dagegen
wurde er 1876 in den Senat gewählt und schloß sich
der republikanischen Linken an. Am 13. Dez. 1877
ward er Minister der öffentlichen Arbeiten im Mini-
sterium Dufaure und entwarf einen großartigen Plan
für den systematischen Ausbau der franz. Eisen-
bahnen und Kanäle. 1878 erhielt er vom Parla-
ment die Ermächtigung, eine Anzahl Privatbahnen
zum Preise von 500 Mill. Frs. für den Staat an-
zukaufen, und übernahm dann nach dem Rücktritt
Waddingtons 29. Dez. 1879 den Vorsitz im Mi-
nisterium und die Leitung der auswärtigen An-
gelegenheiten. Durch Gambettas Einfluß wurde F.
mit Hilse der Kammer zu mchrern radikalen Maß-
regeln (vollständige Amnestie der Commnnards, De-
krete gegen die nicht autorisierten Kongregationen)
genötigt, suchte jedoch die chauvinistische Bewegung
in ruhigere Bahnen zu leiten und mit dem Vatikan
bezüglich der Kongregationen eine Verständigung
herbeizuführen. Da veranlaßte Gambetta 21. Sept.
1880 F.s Rücktritt von der Staatsleitung, doch
übernahm er 30. Jan. 1882 abermals die Leitung
der Regierung und zugleich das Ministerium des
Auswärtigen. Da F. aber in der agypt. Frage der
brit. Regierung den Vortritt überlieh und nur an
der Veschützung des Sueskanals franz. Truppen
und Schiffe teilnehmen lassen wollte, brachten ihn
die Gambettisten 29. Juli 1882 zu Fall. Erst als
Ferry im April 1885 die Staatslcitung verlor,
übernahm F. im Ministerium Brisson das Porte-
feuille der auswärtigen Angelegenheiten wieder. Er
unterzeichnete den Vertrag mit Madagaskar und
widerfetzte sich in den Kammern der von den Monar-
chisten und Radikalen geforderten Räumung Tong-
kings. Ein 29. Okt. 1885 auf der Concordienbrücle
zu Paris gegen ihn gerichtetes Attentat (Pistolen-
schuß) hatte keinen Erfolg. Nach dem Rücktritt
Brissons wurde er mit der Bildung eines neuen
Kabinetts beauftragt und trat 7. Jan. 1886 zum
drittenmal an die spitze des Ministeriums. In
dieses nahm er verhängnisvollerweise den General
Boulanger als Kriegsminister auf. In der Frage
der von den Radikalen und Opportunisten gefor-
derten Ausweisungen sämtlicher franz. Prinzen
bestand er darauf, daß nur die direkten Präten-
denten und deren älteste Söhne sofort ausgewiesen
werden sollten, und setzte seine Ansicht in den Kam-
mern durch (Gesetz vom 23. Juni 1886). Nachdem
er 27. Nov. seine auswärtige Politik, besonders in
Bulgarien und Ägypten, dargelegt hatte und für die
Beibehaltung der franz. Botschaft beim Papst ein-
getreten war, wurde er bei dem Antrage Colfavrus
auf Aufhebung fämtlicher Ilnterpräfekturen durch
eine Koalition der Radikalen und Monarchisten
3. Dez. 1886 gestürzt. Bei der Präsidentenwahl von
1887 erhielt F., die "weihe Maus", wie ihn der Volks-
witz nennt, im ersten Wahlgange nur 76 Stimmen
und trat darauf fofort von der Kandidatur zurück.
Am 3. April 1888 übernahm er in: Kabinett Floquet
die Leitung des Kriegsministcriums, das er auch
unter Tirard fortbehielt, bis er nach dessen Sturz
von Carnot berufen wurde, ein neues Ministerium
zu bilden, das 16. März 1890 zu stände kam und
allgemein Zutrauen fand. F. behielt auch jetzt das
Kriegsportefeuille für sich. Als er 19. Febr. 1892
bei der Beratung des Genossenschaftsgefetzes in der
Minorität blieb, reichte er mit dem ganzen Kabinett
feine Entlassung ein, blieb aber in dem neugebil-
detcn Ministerium Loubet Kriegsminister und blieb
es auch, als die Panamakrisis 5. Dez. desselben
Jahres einzelne Mitglieder ausscheiden hieh und die
Präsidentschaft des Kabinetts an Ribot überging.
Jedoch nur wenige Wochen später verlor er dennock
sein Portefeuille. Er wurde ebenfalls beschuldigt,
wenn auch nur zu polit. Zwecken, Panamagclder an-
genommen zu haben, und so gab 10. Jan. 1893 das ge-
samte Ministerium seine Demission. In dem 12. Jan.
neugebildeten Kabinett fand F. keine stelle. Seine
nahezu fünfjährige ununterbrochene Thätigkeit als
Kriegsminister hat für Frankreich immense Macht-
mittel geschaffen. Seit 1891 ist er Mitglied der
Französischen Akademie. Er schrieb außer den be-
reits erwähnten Werken: "^raits äe rnecaniHUL
i-Hti0N6il6" (2 Bde., Par. 1858), "ve 1'Hiia.IvL6
iniinit68iin3i6" (ebd. 1860), "1)68 z>6nt68 kcono
IN1(1U68 6N H6IN1N8 (1s ler" (ebd. 1861), "^I'ait6
ä'a88inni886in6nt Wäu8tri6l" (mit Atlas, ebd. 1870).
Freycinet (spr. freßineh), Louis Clande De-
saulses de, franz. Reifender, geb. 7. Aug. 1779 zu
Montelimart, trat 1793 in den Marinedienst und
begleitete 1800 den Entdeckungsreifenden Kapitän
Baudin nach Australien. Nach feiner Rückkehr 1804
wurde er Schiffslieutenant und 1805 beim Depot
der Marine für Karten und Pläne angestellt. Als
Kapitän der Urania machte F. 1817-20 eine neue
Reise in der Südsee. Nachdem F. 1826-30 Gou-
verneur von Martinique gewesen, zog er sich auf
sein Landgut bei Loriol im Tepart. Dröme zurück,