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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Geisteskrankheiten

wärtig in vielen Fällen materielle Störungen nachweisen, wo dies früher unmöglich war, und da, wo sich bestimmte ursächliche körperliche Momente noch nicht auffinden lassen, sind solche unter Berücksichtigung der allgemeinen Erfahrungen über die Lebenseigenschaften des Nervensystems im normalen und krankhaften Zustande, über die körperlichen Begleiterscheinungen der Geistesthätigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erschließen. Man nimmt so gegenwärtig ziemlich allgemein an, daß jeder Geisteskrankheit ein anomaler Zustand, bez. Thätigkeitsmodus des Gehirns entspricht, in welch letzterm nach den Aufschlüssen der Pathologie, Physiologie und vergleichenden Anatomie das Organ der Seelenthätigteiten zu suchen ist. In der That finden sich in vielen, insbesondere chronischen Fällen von G. ausgebreitete, teils schon mit bloßem Auge sichtbare, teils durch das Mikroskop nachweisbare Veränderungen der Struktur des Gehirns und seiner Häute, insbesondere Entzündungen, Schrumpfung u. s. w. im Bereich der Großhirnhalbkugeln, deren graue Rindenschicht (Großhirnrinde) das Substrat der höhern Geistesthätigkeiten darstellt, deren ausgedehnte Erkrankung, sofern sie auf beiden Halbkugeln gleichzeitig sich findet, auch notwendig geistige Störung im Gefolge hat. Doch genügt offenbar schon eine hochgradige Überanstrengung (Ermüdung) dieses Organs, z. B. durch heftige Gemütsbewegungen, anhaltendes Denken, um sie zu einer normalen Funktion auf längere oder kürzere Zeit unfähig zu machen; desgleichen eine abnorme Mischung des zur Ernährung dienenden Blutes, abnorme Reize, die von andern Organen her (z. B. Geschlechtswerkzeuge) auf das Gehirn einwirken, weshalb man nicht bei allen Geisteskranken sichtbare Veränderungen des Gehirns antrifft.

Für den Nachweis des Bestehens von G. lassen sich allgemein gültige kurze Regeln nicht geben. Es giebt kein einziges specifisches Kennzeichen, an dem sich in allen fällen Geisteskrankheit erkennen läßt, da alle Einzelerscheinungen normaler Geistesthätigkeit, die bei Irren beobachtet werden, für sich gelegentlich auch bei Geistesgesunden vorkommen können. Nur auf Grund einer den Zustand sämtlicher geistiger Funktionen, die gesamte geistige und leibliche Persönlichkeit, die Vorgeschichte derselben, die Familienanlage u. s. w. berücksichtigenden Untersuchung ist in vielen Fällen mit Sicherheit eine Geisteskrankheit zu erkennen, und auch dies führt nicht immer zum Ziel, da sich zwischen Geisteskrankheit und Gesundheit scharfe Grenzen nicht ziehen lassen (sog. zweifelhafte Seelenzustände). Charakteristisch ist neben Gruppierung und Verlauf die selbständige, äußerlich nicht begründete Entstehung und die periodische Wiederkehr der Erscheinungen, die erfahrungsgemäß G. zusammensetzen.

Eine umfassende rationelle Einteilung der G. läßt sich gegenwärtig nicht geben, weshalb die Psychiatrie vorläufig einer allgemein gebräuchlichen Terminologie noch entbehrt. Von alters her (Hippokrates) unterscheidet man mit Rücksicht auf die Einzelerscheinungen verschiedene Arten von G. (sog. psychologische Formen), die auch in der modernen Terminologie ihren Platz behaupten, obwohl die Anschauungen über das Wesen der bezeichneten Zustände sich völlig geändert hat. Es sind dies: Melancholie, Hypochondrie, Manie, Paranoia (Verrücktheit), Blödsinn; Wahnsinn ist ein Kollektivbegriff, wenn schon einzelne damit bald diese, bald jene Form von Geisteskrankheit bezeichnen. Jetzt sind noch dazugekommen: Folie raisonnante (Handlungs-Irresein ohne Wahnideen), das impulsive Irresein, das moralische Irresein (Gemütswahnsinn, Moral insanity, s. d.), die psychischen Dämmerzustände u. s. w. Zweifellos handelt es sich bei diesen verschiedenen Krankheitsbildern um besondere Störungsformen der geistigen Thätigkeiten, insofern bei den einen mehr Anomalien der Sphäre des Gemüts, bei andern mehr des Verstandes, bei dritten mehr des Strebens (Willens) in das Auge fallen. Doch ist es ungerechtfertigt, daraufhin überhaupt die G. einteilen zu wollen nach den "Seelenvermögen", die sich besonders ergriffen zeigen, wie dies noch bis vor kurzem und zum Teil von namhaften Irrenärzten gethan worden ist. Denn einmal hat sich überhaupt die Annahme dreier gesonderter "Seelenvermögen" als unhaltbar erwiesen, und dann ist die Annahme, daß diese Seelenvermögen isoliert "erkranken" können (in Form sog. "Monomanien") erfahrungsgemäß durchaus unhaltbar. Es beruht in der That auch nur auf einer irrtümlichen Auffassung, wenn man dem Begründer der Lehre von den "Monomanien", Esquirol, eine derartige Anschauung zuschreibt, die thatsächlich erst von seinen Nachfolgern ausgebildet worden ist. In Wirklichkeit leiden bei allen G. alle Seiten geistiger Thätigkeit; nur erscheint bald einmal die gemütliche Sphäre, bald die Verstandesthätigkeit, bald das Streben (Wollen) als der Ausgangspunkt der geistigen Erkrankung. In diesem Sinne ist es gerechtfertigt, die alte Einteilung der G. im weitern Sinne in Gemütskrankheiten, und Geistes- (Verstandes-) Krankheiten im engern Sinne beizubehalten.

Zu den Gemütskrankheiten gehören insbesondere die Melancholie und Manie. Erstere besteht im wesentlichen in grundloser trauriger, bez. ängstlicher (depressiver) Verstimmung mit konsekutiver Verlangsamung des Vorstellungsverlaufs, Willensschwäche, und in den höhern Graden mit Wahnvorstellungen traurigen Inhalts, Versündigungsideen, Erwartung harter Strafe, eventuell mit entsprechenden Sinnestäuschungen, während die Manie gerade das gegenteilige Bild darstellt: meist exaltierte, gehobene (zornige, oder freudige, oder wechselnde) Stimmung, raschen Ideenfluß, gesteigertes Triebleben, gelegentliche Überschätzungsideen und ab und zu Sinnestäuschungen. Höhere intellektuelle Operationen sind gestört bei der Verrücktheit, worunter die Psychologie nicht, wie die Laien, jede Art Geisteskrankheit versteht, sondern nur bestimmte Formen. Hier tritt besonders die Bildung von Wahnideen in den Vordergrund, die, meist auf Grund von Hallucinationen entstehend, jedem logischen Einwand gegenüber festgehalten und vielfach untereinander zu einem Wahnsystem verknüpft werden (sog. fixe Ideen). Unterarten der Verrücktheit sind: der Verfolgungswahn, die Erotomanie, der Querulantenwahnsinn u. s. w. Hierbei kommt es besonders häufig zu einer völlig falschen Auffassung der eigenen Person, ihres Verhältnisses zur Mitwelt u. s. w. (frz. aliénation, Irresein, aliéné, der Irre). Ein Krankheitsbild, wobei besonders das Streben (Wollen) gestört erscheint, stellt das sog. impulsive Irresein dar. Hier begehen die Kranken (meist Epileptiker) komplizierte Handlungen (Mord, Brandstiftung), ohne sich eines Motivs klar zu werden, ohne heftigen Affekt, lediglich zufolge eines unwiderstehlichen Triebes. Doch leidet hier bei näherer Be-^[folgende Seite]