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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Geistige Getränke

hauptsächlich Magenleidender und Schwindsüchtiger, verwendet werden, enthalten weitaus die meisten G. G. nur minimale Mengen Nahrungsstoffe und auch bei denen, welche etwas mehr enthalten (das Bier Malzzucker und Dextrin, die Süßweine Fruchtzucker, die Liqueure Rohrzucker), tritt der Wert als Nahrungsmittel in Anbetracht der Mengen, welche der Mensch gewöhnlich aufnimmt, völlig in den Hintergrund. Die G. G. sind daher als reine Genußmitel zu betrachten, und zwar sind sie es vorwiegend durch ihren Alkoholgehalt, nur in untergeordnetem Maße tragen zu der Wirkung als Genußmittel auch einige der übrigen in ihnen enthaltenen Stoffe bei.

Der Alkohol hat für den menschlichen und tierischen Körper eine ganz specifische, energische Wirkung. Zunächst erregt er die Nerven der Schleimhäute des Mundes und Magens, bewirkt deshalb eine vermehrte Absonderung der Verdauungssäfte und übt so einen wohlthätigen Einfluß auf den Verdauungsvorgang selbst. Ins Blut aufgenommen und durch dasselbe im ganzen Körper verteilt, erregt er dann das gesamte Nervensystem. Dadurch wird z. B. die Herz- und Atemthätigkeit beschleunigt, das Vorstellungsvermögen erleichtert, das subjektive Kräftegefühl erhöht. Der Mensch ist nach Genuß G. G. lebhafter, für Eindrücke leichter zugänglich, er fühlt sich arbeitslustiger und leistungsfähiger.

Eine eigenartige Wirkung hat der Alkohol gegenüber dem Gefäßsystem der Haut: er lähmt die Muskeln der Blutgefäße. Diese werden dadurch weit und füllen sich strotzend mit Blut. Auf der äußern Haut bemerkt man deshalb nach Genuß G. G. lebhafte Rötung, besonders deutlich im Gesicht. Das viele warme Blut, das durch die Hautgefäße strömt, verursacht ein Gefühl von Wärme; man sagt daher, der Alkohol macht warm. Dieses erhöhte Wärmegefühl ist aber nicht eine Folge größerer Wärmebildung im Körper, wie man früher in der Meinung, daß der Alkohol im Körper verbrenne, angenommen hat, denn der Alkohol verbrennt nur zum kleinern Teil und nur sehr langsam, der größte Teil wird unverändert durch die Nieren und Lungen wieder ausgeschieden; sondern lediglich eine Folge der geschilderten Wirkung auf die Haut. Im Gegenteil wird von der durch Alkohol erwärmten Haut mehr Wärme nach außen abgegeben, der gesamte Wärmevorrat des Körpers somit vermindert. Dies erklärt auch die Vorliebe der Bewohner heißer Klimate (der Tropen) für G. G., deren Alkohol es ihnen erleichtert, die überschüssige Körperwärme abzugeben. Unter Umständen kann diese Eigenschaft des Alkohols, eine gesteigerte Abgabe der Wärme vom Körper zu vermitteln, verhängnisvoll werden, nämlich wenn der Körper an sich schon viel Wärme verloren hat, wie z. B. der Körper von Verwundeten, welche große Blutverluste erlitten, oder von Menschen, welche nahe dem Erfrierungstode waren, oder von stark erschöpften Soldaten. Daher stammt die allgemeine Regel, solchen Leuten in der ersten Zeit keine G. G. zu verabreichen.

Die wohlthätigen Wirkungen des Alkohols treten nur nach Aufnahme geringer Mengen ein und sind auch nur von vorübergehender Dauer. Wo solche Wirkungen wünschenswert sind, wie bei Kranken, deren Lebensthätigkeit über eine gefährliche Krise hinweg erhalten werden soll, oder bei kurz dauernden stärkern Anforderungen an die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, sind geringe Mengen G. G. vollkommen am Platz.

Größere Mengen G. G. führen rasch zu Vergiftungserscheinungen; nach rasch verlaufender Erregung stellen sich Symptome von Lähmung des Nervensystems ein: das Vorstellungsvermögen ist erschwert, die Willensäußerungen werden beschränkt, die Bewegungen des Körpers werden unsicher, Schwindel, Schlafsucht befällt den Berauschten. Bei Aufnahme konzentrierterer Alkohollösungen tritt rasch Bewußtlosigkeit, ja plötzliche Lähmung des Nervensystems und Tod ein.

Durch allmähliche Gewöhnung lernt der Körper auch größere Mengen Alkohol vertragen, jedoch treten auch bei dieser Art des gewohnheitsmäßigen Alkoholgenusses bald früher, bald später schwere körperliche und psychische Schäden in Erscheinung. (S. Alkoholismus.)

Besonders berauschend und vergiftend wirken die schlechtern Branntweinsorten, so besonders der Kartoffelbranntwein. Es rührt dies davon her, daß diese Sorten noch andere Alkohole, namentlich den sehr giftigen Amylalkohol (Fuselöl) in nicht unbeträchtlicher Menge enthalten. Mit Rücksicht darauf werden in vielen Staaten die Branntweinfabrikanten gesetzlich angehalten, nur fuselölfreie Fabrikate in den Handel zu bringen. Auch in Deutschland bestehen solche Bestimmungen.

Wie geschätzt die G. G.als Genußmittel sind, geht aus der Thatsache hervor, daß dieselben bei nahezu sämtlichen Völkern in beträchtlichen Mengen hergestellt und genossen werden.

Der Konsum pro Kopf für Branntwein und Wein betrug im Durchschnitt der Jahre 1835-91, für Bier im J. 1990 in

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Staaten Branntwein l Wein l Bier l.

Großbritannien und Irland 6,0 1,7 136,2

Schweden 8,8 0,5 27,2

Norwegen 3,8 0,9 37,5

Dänemark 19,7 1,2 102,9

Rußland 9,3 3,3 4,6

Niederlande 10,4 2,2 34,6

Belgien 10,3 3,2 177,5

Frankreich 8,4 94,4 22,5

Italien 2,0 95,2 0,9

Schweiz 10,1 60,7 40,0

Österreich-Ungarn 7,8 22,1 32,0

Deutschland 9,1 5,7 105,8

Vereinigte Staaten v. Amerika 5,8 2,6 58,0

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In neuester Zeit hat sich der Konsum zum Teil durch die strengern Branntweinsteuergesetze, zum Teil durch direkte Gesetze gegen die Trunksucht sowie durch die Bestrebungen der Mäßigkeitsvereine (s. Temperenzler) meist etwas vermindert; und zwar hauptsächlich der Konsum der stärkern Sorten, wogegen der Konsum an Bier vielfach gewachsen ist.

Die G. G. haben in volkswirtschaftlicher Beziehung eine große Bedeutung. Die Spiritusindustrie macht manche Bodenarten, die sonst kaum einen Ertrag abwerfen würden, durch die Bebauung mit Kartoffeln und zur Mehlbereitung nicht geeigneten Getreidearten, Rüben u. s. w. ertragsfähig. Der große Konsum der G. G. ist zugleich eine der bedeutendsten Einnahmequellen des Staates; die durch Getränkesteuern (s. d.) verursachte Einnahme der Staatskassen beläuft sich auf viele Millionen Mark. Auf der andern Seite darf man aber nicht vergessen,