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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Gerichtlicher Verweis; Gerichtliche Tierheilkunde; Gerichtsarzt; Gerichtsassessor

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Gerichtlicher Verweis – Gerichtsassessor

verschiedene Grade von Zurechnungsfähigkeit nicht mehr. Die G. P. hat dem gegenüber im allgemeinen wie im speciellen zu erörtern, in welcher Weise anomale psychische und somatische Zustände die geistigen Funktionen, die bei dem Unterscheidungsvermögen und der Willensfreiheit in Betracht kommen, zu beeinträchtigen vermögen, und die Methoden anzugeben, durch die das Vorhandensein solcher beeinträchtigender Momente zu erkennen ist; und die moderne Gesetzgebung (z. B. in Deutschland) hat dem entsprechend jene Momente speciell namhaft gemacht. Es kommen hier im wesentlichen drei Gruppen in Betracht: 1) solche, welche die rechtzeitige Erlangung der strafrechtlichen Reife verhindern oder die geistige Entwicklung verlangsamen, wozu unter andern die Taubstummheit gehört; 2) solche, welche die Erreichung jener Reife überhaupt unmöglich machen, wo es nie zur vorausgesetzten geistigen Entwicklung kommt: die Idiotie im weitesten Sinne des Wortes. Die Abstufungen dieser Form sind zahllos, von den Idioten höhern Grades, die eben nur handlungsfähig sind, bis zu jenen geringen Graden angeborenen Schwachsinns, die man gemeinhin als Beschränktheit bezeichnet. In diese Kategorie gehören die besonders schwer zu beurteilenden Zustände, die man seit Prichard als Moral insanity, moralische Idiotie, bezeichnet, charakterisiert durch die Unfähigkeit, sittliche Begriffe zu bilden, sowie zahlreiche andere auf sog. degenerativer Anlage erwachsene Anomalien des Denkens, Fühlens und Handelns. 3) Störungen, die erst nach erlangter geistiger Vollentwicklung hervortreten, insbesondere die eigentlichen Geisteskrankheiten, ferner die sog. gewöhnlichen Gehirnkrankheiten, soweit als sie die geistigen Funktionen erweislich schädigen, endlich (Deutsches Strafgesetzbuch) die sog. Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit (Schlafwandeln, Schlaftrunkenheit, hochgradige Affekte mit Bewußtseinsstörung, Delirien infolge von Vergiftungen, fieberhaften Krankheiten u. s. w.). In den letztern Fällen handelt es sich nicht um Zustände vollständiger Bewußtlosigkeit, wie z. B. bei Ohnmachten, sondern im wesentlichen nur um Aufhebung des klaren Selbstbewußtseins und demgemäß der Fähigkeit, Phantasiegebilde und Wirklichkeit zu unterscheiden, überhaupt eine gegebene Situation richtig zu erkennen und leidenschaftlichen Antrieben besonnene Erwägungen entgegenzusetzen. Der Alkoholrausch, sofern derselbe nicht auf Grund krankhafter individueller Eigentümlichkeiten, z. B. Intoleranz gegen Alkohol in selbst kleinen Dosen, hervorgerufen ist, wird seitens des Deutschen Strafgesetzbuches nicht als Zustand krankhafter Bewußtlosigkeit, der die Zurechnungsfähigkeit aufhebt, aufgefaßt, offenbar aus rein praktischen Gründen. – Vielfach hat in der G. P. die Frage Erwägung gefunden, ob jeder Geisteskranke im Sinne der Psychiatrie als unfähig, Recht und Unrecht zu unterscheiden und sich frei zu entscheiden, zu betrachten sei. Während die mediz. Autoritäten im allgemeinen diesen Satz bejahen, stößt er seitens der Juristen vielfach auf Widerspruch. Die erstern stützen sich im wesentlichen auf die Annahme, daß sämtliche geistigen Bethätigungen so innig zusammenhängen, daß Störung einer Seite notwendig auch alle andern in Mitleidenschaft ziehen müsse; zudem ist es im konkreten Falle unmöglich, abzumessen, inwieweit eine thatsächlich nachweisbare Geisteskrankheit auf diese oder jene Entschließung eingewirkt hat. Es sind dies die nämlichen Gründe, die auch zur Verwerfung einer partiellen Zurechnungsfähigkeit geführt haben. – Umgekehrt ist eine neuere, besonders von ital. Forschern (Lombroso u. a.) begründete (anthropologische) Schule bemüht, den Satz zur Geltung zu bringen, daß jeder oder doch weitaus die Mehrzahl der Verbrecher geistig und körperlich besonders, d. h. abnorm geartet sind. Obwohl nicht zu verkennen, daß geistige und körperliche Anomalien bei vielen Verbrechern oder deren Vorfahren nachweisbar sind, und daß deren naturwissenschaftliches Studium weitere wichtige Aufschlüsse erwarten läßt, so ist es doch zweifellos viel zu weit gegangen, in jedem Verbrecher ein irgendwie abnormes Subjekt zu erkennen und jede verbrecherische Handlung aus diesem abnormen Zustand abzuleiten, da einesteils bei vielen Verbrechern eine organische Belastung nicht nachweisbar ist, andernteils viele organisch Belastete nie Verbrechen begehen, trotz ungünstiger Einflüsse. (S. auch Kriminalanthropologie.)

B. Civilrechtliche Psychologie. Die psychol. Voraussetzungen für die Fähigkeit, rechtsgültige bürgerliche Rechtsgeschäfte zu vollziehen, gipfeln ganz besonders in der Freiheit des Vernunftgebrauchs auf Grund hinreichender Lebenserfahrungen, in der Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlungen zu überlegen und in dem Vermögen, seine Gedanken zu äußern. Die G. P. hat demgemäß festzustellen, durch welche krankhaften Zustände diese Funktionen beeinträchtigt werden. Es kommen hier, rein medizinisch betrachtet, dieselben in Betracht, wie bei den kriminalpsychol. Fragen. Doch gesellen sich noch einige weitere hinzu, insbesondere die Unfähigkeit, sich sprachlich zu äußern (Aphasie). Ferner ist in dieser Richtung wichtig die Lehre von den sog. lichten Zwischenräumen (lucida intervalla), insbesondere während chronischer Geistesstörungen, wobei ausschließlich psychiatrische Erfahrungsthatsachen zu berücksichtigen sind.

Litteratur. Friedreich, Systematisches Handbuch der G. P. (Lpz. 1835; 3. Aufl., Regensb. 1852); von Krafft-Ebing, Die zweifelhaften Geisteszustände vor dem Civilrichter (Erlangen 1873); ders., Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie (3. Aufl., Stuttg. 1892); von Maschka, Handbuch der gerichtlichen Medizin (Bd. 4: Die gerichtliche Psychopathologie, Tüb. 1883); Lombroso, Der Verbrecher (deutsch von Fränkel, Hamb. 1887).

Gerichtlicher Verweis, s. Verweis.

Gerichtliche Tierheilkunde, s. Tierheilkunde.

Gerichtsarzt, s. Gerichtliche Medizin.

Gerichtsassessor wird in Preußen (und andern deutschen Staaten) derjenige genannt, welcher durch Ablegung zweier Prüfungen, deren erster ein dreijähriges Studium auf einer Universität und deren zweiter ein mindestens drei- (in Preußen vier-) jähriger praktischer Vorbereitungsdienst vorangehen muß, gemäß §. 2 des Deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes die Fähigkeit zum Richteramt erlangt hat (vgl. preuß. Gesetz vom 6. Mai 1869). Die G. werden nach ihrer Ernennung vom Justizminister einem Amts- oder Landgericht, oder mit ihrer Zustimmung einer Staatsanwaltschaft zur unentgeltlichen Beschäftigung überwiesen, können von dem Orte dieser Beschäftigung ohne ihre Zustimmung nicht versetzt werden, sind aber verpflichtet, auf Anordnung des Justizministers gegen Entschädigung die Verwaltung einer Amtsrichterstelle, die Stellung eines Hilfsrichters oder eines Hilfsarbei- ^[folgende Seite]