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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Griechische Litteratur

II. Periode (vom Ende des 8. vorchristl. Jahrhunderts bis zum Ende der Perserkriege). In dieser setzt sich die epische Dichtung fort; als Nachahmer und Schüler Homers treten uns die sog. Cyklischen Dichter (s. d.) entgegen, und auch das religiöse, ethische und didaktische Gedicht findet bei den sog. Orphikern (s. Orpheus), d. h. bewußten oder unbewußten Mystikern, als deren Hanptvertreter der am Hofe des Pisistratus lebende Onomakritus anzusehen ist, Nachahmung und Pflege. Aber bereits fing man auch an, die Resultate philos. Denkens in der Form der epischen Dichtung zu behandeln (Xenophanes von Kolophon), daneben entwickelt sich eine formell und inhaltlich neue Gattung von Poesie, die Lyrik im weitesten Sinn, das echte Kind einer Zeit, welche nun auch der Subjektivität zu ihrem Recht verhelfen wollte. Letztere war während der epischen Periode völlig hinter den Stoff zurückgetreten, regte sich aber und trat bewußt, sogar stürmisch in den Vordergrund, als auch in der Politik eine Änderung eingetreten und unter republikanischen Staatsformen das Selbstgefühl des Einzelnen durch fortgesetzte persönliche Teilnahme an staatlichen Dingen und Fragen gesteigert worden war. Da sich nun diese Subjektivität nach den verschiedensten Seiten hin geltend machte, entstanden auf diesem Gebiete, gegenüber der Gleichmäßigkeit der epischen Produkte, mehrere Unterarten. Zuerst entwickelt sich bei den Ioniern Kleinasiens, den Übergang vom Epos zur eigentlichen Lyrik bildend, die elegische Poesie, die im Distichon, dessen Erfindung gewöhnlich dem Kallinus von Ephesus, von andern dem Archilochus von Paros zugeschrieben wird, den Anfang der Strophenbildung aufweist. Ihrem Inhalt nach war die Elegie teils politisch-kriegerisch, zum Kampfe fürs Vaterland anfeuernd (Kallinus, Archilochus, der Spartaner Tyrtäus), teils gab sie den Empfindungen der Liebe, des heitern Lebensgenusses wie der wehmütigen Trauer über die Kürze und Vergänglichkeit des Menschenlebens Ausdruck (Mimnermus von Kolophon), teils enthielt sie allgemeine Lehren (Gnomen) sowie praktische Regeln für die verschiedensten Verhältnisse des öffentlichen und häuslichen Lebens (Solon von Athen, Theognis von Megara, Phokylides von Milet u. a.). Neben der Elegie ward die hauptsächlich zu Spottversen gebrauchte iambische Poesie ausgebildet, ebenfalls ein Produkt des ion. Volksgeistes, zuerst durch Archilochus in die Litteratur eingeführt, dann von Simonides von Amorgos auf allgemeinere Stoffe (z. B. Charakteristik der Frauen) angewandt, von Hipponax aus Ephesus wieder zu heftigen Schmähungen gegen einzelne ihm verfeindete Persönlichkeiten benutzt. In diesen iambischen Dichtungen finden sich auch (bei Archilochus und Simonides) Versuche in der Tierfabel; der meist als Erfinder dieser Gattung bezeichnete Äsopus ist wahrscheinlich eine sagenhafte Persönlichkeit.

Die Lyrik im engern Sinne, die melische Poesie, deren Ausbildung mit der Entwicklung der Musik in nahem Zusammenhange steht, teilt sich in zwei Hauptgattungen: die eigentliche melische Dichtung (Liederdichtung, von melos "Lied" benannt), die von den Äoliern, und die chorische Poesie, die von den Doriern hauptsächlich gepflegt wurde. Die erstere ist die Poesie heiterer Geselligkeit und frohen Lebensgenusses, aber auch des tiefsten, feurigsten Gefühlslebens. Ihre Erzeugnisse sind fast durchgängig kleinere Lieder in kurzen, meist vierzeiligen Strophen, größtenteils (mit Ausnahme etwa der Hymenäen und Epithalamien) von einzelnen Personen zur Zither vorgetragen. Ihr Hauptsitz ist die Insel Lesbos, wo der leidenschaftlich ungestüme Alcäus und die schwärmerisch begeisterte Sappho diese Dichtgattung zur höchsten Blüte brachten, nachdem schon vorher Terpander den Nomos, den von Einzelnen, aber gleich den chorischen Liedern bei Götterfesten vorgetragenen religiösen Gesang, kunstmäßig ausgebildet und die Zithermusik vervollkommnet hatte. Dem Vorbild jener folgte der Ionier Anakreon in seinen leichten, heitern Liedern. Die Produkte der chorischen Lyrik wurden von Chören unter tanzartigen Bewegungen und der Begleitung von Saiten- und Blasinstrumenten hauptsächlich an öffentlichen Festen vorgetragen, wodurch sowohl ihre kunstreichere Form, als auch ihr ernsterer, zum Teil geradezu religiöser Charakter bedingt wurde. (S. Chor.) Alkman und Stesichorus dichteten Strophen von größerm Umfange und mannigfacherm Wechsel der Rhythmen und führten die Gliederung der Gedichte in Strophe, Antistrophe und Epode durch. Der letztere gab seinen Chorgesängen durch Verwertung mythischer Stoffe einen dem Epos verwandten Inhalt, während Ibykus die chorische Form zum Ausdruck der Empfindungen leidenschaftlicher Liebe anwandte. Ihre höchste Vollendung nach Form und Inhalt und einen gewissermaßen universalen Charakter erreichte dann die chorische Lyrik am Ende dieser und am Anfang der folgenden Periode durch Dichter wie Simonides auf Keos und dessen Neffen Bacchylides, besonders aber durch Pindar, dessen erhaltene Epinikien für uns die einzigen Muster dieser ganzen Dichtgattung sind. Eine außerordentlich fruchtbare Entwicklung hat ein besonderer Zweig der chorischen Lyrik durchgemacht, der Dithyrambus. Ursprünglich ein volkstümliches Lied zum Preise des Dionysos, wurde er durch Arion aus Lesbos künstlerisch ausgebildet, sein Inhalt durch andere Dichter erweitert und zugleich der rhythmischen und musikalischen Form größere Freiheit und Mannigfaltigkeit gegeben. Bald aber schuf der Tragiker Thespis aus ihm eine ganz neue Dichtgattung, indem er dem Chor einen Einzelnen gegenüberstellte und mit dem Chorführer Wechselgesänge und Zwiegespräche führen ließ. Da dieser Einzelne nicht nur eine, sondern mehrere Rollen nacheinander - mit Hilfe entsprechender Masken - darzustellen hatte, so war damit die mimische Darstellung einer von mehrern Personen durchgeführten Handlung (das Drama) gegeben.

Die aus solchen Anfängen hervorgegangene Tragödie wurde von den Athenern mit Beifall aufgenommen und erhob sich, als Schmuck der öffentlichen Dionysosfeste, zu immer höherer Würde und tieferm Ernste, besonders seit Pratinas das Satyrspiel von der ernstern Tragödie ausgeschieden hatte. Phrynichus wagte sich bereits, neben den mythischen, an die Behandlung geschichtlicher, nationaler Stoffe, und Äschylus, dessen Hauptthätigkeit freilich bereits der folgenden Periode angehört, brachte durch die Verbindung von vier Dramen (Tetralogie), durch Kühnheit und Erhabenheit des Ausdrucks, Reichtum der musikalischen Form und reichere Ausstattung der Bühne und der Schauspieler (deren Zahl er auf zwei vermehrte) die Tragödie ihrer Vollendung nahe.

Aus dem Kultus des Dionysos entwickelte sich auch die andere Hauptgattung des Dramas, die