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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Heerwesen Europas
Noch größer war die Veränderung, die die Erfin-
dung des Schießpulvers und die Einführung der
Feuerwaffen seit dem Ende des 14. Jahrh, in dem
europ. Heerwesen hervorbrachte. Die Bedeutung des
Rittertums ward immer geringer, und die zunft-
raähig organisierten Landsknechte (s. d.) traten an
Stelle der Ritter. Schon zu Anfang des 14. Jahrh,
waren Handfeuerwaffen in Gebrauch, aber erst im
15. Jahrh, wurden Geschütze häufiger im Feldkriege
verwendet. Ihre Herstellung und Bedienung siel
einer neuen Waffengattung, der Arkeley (s. d.), zu,
deren Mitglieder Gezeugmeister oder Vüchsenmeister,
im 17. Jahrh, auch Konstabler hießen. Im dentschen
Reichsheer bildete das Fußvolk im 15. Jahrh. "Fah-
nen" von 100 Mann (Kumpaneien), deren 8 einen
"Haufen" ausmachten, die Reiter Rotten zu 32 ge-
harnischten Lanzierern, deren 5 "Reiterfahne" und
4 Fahnen "Geschwader" genannt wurden. Zur
döchstcn Blüte gelangte das Landsknechtswesen in
Italien, wo die Söldnerführer, die Condottieri
(s. d.), in den fortwährenden Kämpfen des 15. Jahrh,
die wichtigste Rolle spielten.
Am Schlüsse des Mittelalters gab es in Europa
nur noch wenige lehnspstichtige Ritter, da die Ver-
pflichtung znr Heeresfolge fast überall abgelöst war,
doch diente der Adel um Sold im Heere, das jetzt
vielsach schon neben den gewerbsmäßigen Söldnern
aus Landeskindern aufgebracht wurde. Aber noch
immer wurden die Truppen bis auf kleine Leib-
wachen der Fürsten und fchwache Vesatzungsstämme
für die Festungen nach dem Friedensschluß wieder
entlassen. Mustergültig waren in dieser Zeit die
span. Heereseinrichtungen für den Westen, die os-
manischen sür den Osten. Den Höhepunkt des
Werbesystems bildet die Zeit des Dreißigjäh-
rigen Krieges. Von 1630 ab wurde das schwed.
Kriegswesen, das Gustav Adolf auf eine bohe Stufe
gebracht hatte, das maßgebende Vorbild für die
europ. Heere, doch trat noch im Lanfe des 17. Jahrh.
Frankreich, dessen unter Ludwig XIV. durch Louvois
reorganisiertes Heer sich unter ausgezeichneten Füh-
rern als die stärkste Kriegsmacht Europas bewährt
hatte, an seine Stelle, und die Kricgsterminologie
bediente sich vorzugsweise franz. Bezeichnungen.
Ludwig XIV. war es auch, der zuerst, etwa seit
1665, ein größeres stehendes Heer schnf und da-
durch die übrigen Herrscher Europas alsbald zur
Nachfolge veranlaßte. Allmählich wurde überall die
Werbung mehr eingeschränkt und die A u s Hebung
vorzugsweise zur Ergänzung der Truppen ange-
wendet; militär. Landeseinteilnng (s. Kantonsystem)
bildete die Grundlage für die Aushebung, von der
jedoch viele Klassen der Bevölkerung befreit waren.
Mit Errichtnng der stehenden Heere wurden die
Eoldverhältnisse allenthalben fest geregelt, die Be-
kleidung von der Militärverwaltung übernommen
und eine Uniformierung durchgeführt. Es begann
der Bau von Kasernen, den Garnisonstädtcn wur-
den gewisse Leistungen auferlegt und die Verpfle-
gung der Truppen aus Staats Magazinen beschafft.
Um die Mitte des 18. Jahrh, schwang sich Preußen
durch die treffliche Hecresorganisation Friedrich Wil-
helms I. und das Feldherrngenie Friedrichs d. Gr. zur
ersten Militärmacht Europas auf, deren Einrichtun-
gen in allen Ländern nachgeahmt wurden. Zu Beginn
der Französischen Revolution stand das Heerwesen
der europ. Staaten durchschnittlich auf gleicher Höhe.
Eine neue Epoche in der Geschichte des Kriegs-
wesens beginnt mit den franz. Nevolutionskriegen.
Das von Carnot 1783 organisierte allgemeine Auf-
gebot (s. d.), die 16V66 6n M3.886, verschaffte den franz.
Revolutionsheeren unter der genialen Führung
Napoleons I. das Übergewicht über die Truppen
des alten Europas, und erst als die übrigen Staaten
nach dem gegebenen Beispiel ihre Heere umgestal-
teten, vermochten sie das franz. Joch abzuschütteln.
Dabei betrat nur Preußen eigenartige Bahnen, in-
dem es, den Gedanken ^charnhorsts folgend, die
allgemeine Wehrpflicht zu einer dauernden
Staatseinrichtung erhob und durch die Schaffung
der Landwehr (s. d.) und des Landsturms (s. d.) auch
die ältern Männer für die Verteidigung des Vater-
landes nutzbar machte. Eine weitere Fortbildung
erhielt das preuß. Heerwesen nach dem Regierungs-
antritt Wilhelms 1. durch die von dem Kriegsmini-
ster von Noon durchgeführte Heeresreorganisation,
und die in drei siegreichen Kriegen errungenen Er-
folge machten es zu dem allgemein von den großen
Militärmächten nachgeahmten Vorbilde. In allen
Groftstaatcn, mit alleiniger Ausnahme Großbri-
tanniens, wurden die Heere nach dem Princip der
allgemeinen Wehrpflicht umgestaltet und in gegen-
seitigem Wetteifer immer weiter vermehrt. Auch in
Belgien und in den Niederlanden wird für ihre
Einführung agitiert, während die Schweiz zum
Milizsystcm übergegangen ist.
Da wirtschaftliche und andere Rücksichten es un-
möglich machen und stets unmöglich machen wer-
den, die ganze im Kriege zu verwendende Streit-
macht bereits im Frieden unter der Fahne zu haben,
so mußte das Streben der Heeresverwaltungen
darauf gerichtet sein, für den Kriegsfall die schnelle
Aufstellung zahlreicher wirklich iriegsbrauchbarer
Heereskörper aus den im Frieden beurlaubten aus-
gebildeten Mannschaften zu ermöglichen.
Diefe Möglichkeit ist in erster Linie abhängig
von dem Vorhandensein einer genügenden Anzahl
ausgebildeter Mannschaften älterer Jahrgänge;
der kriegerische Wert solcher Formationen wird in-
dessen wesentlich bedingt durch die Möglichkeit, sie
mit sachkundigen Führern zu besetzen; mehr und
mehr gesteigert wird der Wert solcher Formationen,
wenn ihre Aufstellung sofort innerhalb eines bereits
bestehenden festgefügten Rahmens (Cadres, s. d.) er-
folgt, der sofort einen gewissen Halt giebt. In den
genannten drei Richtungen sind die großen Heere
Europas sort und fort bemüht gewesen, ihre Lei-
stungsfähigkeit zu steigern. Das nötige Material
an ausgebildeten Mannschaften des Veurlaubten-
standes wurde gewonnen durch Verstärkung des
jährlich ausgehobenen Nekrutenkontingents, in
Verbindung mit Abkürzung der aktiven Dienstzeit,
sowie durch gesetzliche Bestimmungen über die Ver-
pflichtungen älterer Jahrgänge. In Bezug auf die
Stärke der jährlichen Aushebungen scheint Frank-
reich die Höhe seiner Leistungsfähigkeit erreicht zu
haben, während Rußland das thatsächlich vorhan-
dene Material nicht in seiner ganzen Ausdehnung
auszunutzen im stände ist. Für Deutschlaud hatte sich
nach den Ergebnissen der wirklichen Aushcbungs-
ziffern der letzten Jahrzehnte herausgestellt, daß die
Zahl der Ausgehobenen in keinem richtigen Ver-
bältnis zu der natürlichen Zunahme der Bevölkerung
stand. Das "Gesetz betreffend die Friedensprä-
senzstärke des deutschen Heers vom 3. Aug. 1893"
hat unter gleichzeitiger Herabsetzung der aktiven
Dienstzeit auf 2 Jahre für alle Mannschaften mit
AusnahmederKavallerie und derreitenden Artillerie