Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Heilig

961

Heilig

gen nützlich zu erweisen. Nur bei solchen Verkrümmungen und Verbildungen des Körpers, bei welchen das Knochengerüst, z. B. die Wirbelsäule, schon wesentlich in Mitleidenschaft gezogen ist, reicht die H. für sich allein gewöhnlich nicht aus; in den meisten Fällen der Art kann die Anwendung zweckmäßiger Apparate und Maschinen oder die Vornahme gewisser chirurg. Operationen (Durchschneidung von Muskeln, Sehnen u. dgl.) nicht entbehrt werden. (S. Orthopädie.)

Litteratur. Rothstein, Die Gymnastik nach dem System des schwed. Gymnasiarchen P. H. Ling (5 Bde., Berl. 1848‒59); Schreber, Kinesiatrik oder die gymnastische Heilmethode (Lpz. 1852); ders., Ärztliche Zimmergymnastik (24. Aufl., ebd. 1890); Eulenburg, Die schwedische H. (Berl. 1853); Seeger, Diätetische und ärztliche Zimmergymnastik (2. Aufl., Wien 1878); Averbeck, Die mediz. Gymnastik (Stuttg. 1882); Barwinski, Die Gymnastik als Erziehungs- und Heilmittel (Weim. 1886); Ramdohr, Die H. (Lpz. 1893).

Heilig, Heilige, Heiligung. H. ist in der biblischen und kirchlichen Sprache die Übersetzung des hebr. Wortes kadōsch, das alles vom gemeinen Gebrauch des Lebens Ausgesonderte und dem Dienste Gottes Geweihte, Dinge wie Personen, bezeichnet. Das spätere Judentum bezeichnete mit dem Ausdruck Heilige (grch. hagioi) die Propheten und Gerechten des Alten Testaments; dagegen hießen so nach neutestamentlichem Sprachgebrauch die an Jesum Gläubigen (1 Kor. 1, 2), weil sie durch Christus dem Reiche der Welt entnommen und in das Reich Gottes versetzt, Gott zugeeignet und infolgedessen auch vom Heiligen Geiste (s. d.), als dem Princip des neuen religiös-sittlichen Lebens, ergriffen worden sind. Die Heiligung nach ihrer subjektiven Seite ist im Neuen Testament zunächst Sündenvergebung (Reinigung von der Schuld) und erst abgeleiteterweise wirklich sittliche Erneuerung. Allmählich fing man dann auch in der christl. Kirche an, das ursprünglich allen Christen eigene Prädikat «heilig» vorzugsweise solchen Männern beizulegen, die durch besondere Geistesausrüstung und Glaubenskraft vor andern sich auszeichneten: z. B. heilige Apostel und Evangelisten.

In der kath. Kirche heißen Heilige solche Verstorbene, von denen man mit Sicherheit annehmen zu dürfen glaubt und von denen die kirchlichen Obern erklärt haben, daß sie der ewigen Seligkeit teilhaftig sind. Ihnen gebührt eine gewisse Verehrung; sie können durch ihre Fürsprache bei Gott (intercessio) für die noch Lebenden Wohlthaten erwirken und sie dürfen um ihre Fürbitte angerufen werden (invocatio). Zuerst wurden nur Märtyrer (s. d.) als Heilige verehrt, später auch Nichtmärtyrer, die sich durch besonderes Gott wohlgefälliges Leben ausgezeichnet hatten: die sog. Bekenner (s. Confessor), und auch Frauen. Der erste Nichtmärtyrer als Heiliger war der Bischof Martin von Tours (s. d.). Maria, die Mutter Jesu, wird als «allerseligste Jungfrau» (beatissima virgo) und als «Königin aller Heiligen» bezeichnet. Von der Gott allein gebührenden Anbetung (adoratio), dem cultus latriae, wird die Verehrung (veneratio) der Heiligen als cultus duliae (bei Maria hyperduliae) unterschieden. In der Praxis wird dieser Unterschied nicht immer streng festgehalten, daher man auch von Hagiolatrie (Heiligenverehrung) spricht. Die Verehrung der Heiligen als nach nahmungswerter Vorbilder wird dadurch bekundet, daß ihre Gedächtnistage (gewöhnlich der Sterbetag) gefeiert werden, daß Messen und Predigten zu ihrer Ehre gehalten, ihnen Kirchen und Altäre geweiht, ihre Bilder aufgestellt und diese sowie ihre Reliquien (s. d.) verehrt werden (s. Bilderdienst und Bilderverehrung). Im 7. Jahrh. wurde neben den besondern Heiligenfesten ein Fest Allerheiligen (s. d.) eingeführt. Über die Heiligenlegenden s. Acta Sanctorum. – Die Verehrung bestimmter Personen als Heiliger wurde früher von den Bischöfen angeordnet oder gestattet. Alexander Ⅲ. behielt 1170 das Recht der Heiligsprechung (Kanonisation, s. d.) dem Papste vor. Der erste von einem Papste, Johann ⅩⅤ., kanonisierte Heilige ist der Bischof Ulrich von Augsburg (993). Das amtliche Verzeichnis der anerkannten Heiligen ist das Martyrologium Romanum (s. Acta Sanctorum). – Im Laufe der Zeit wurde es Sitte, daß jede Gemeinde, jede Stadt, jedes Land, ja jeder Stand und Beruf einen bestimmten Heiligen als Patron oder Schutzheiligen verehrte. So riefen die Franzosen den heil. Dionysius von Paris, die Spanier den heil. Jakobus von Compostella, die Ungarn den heil. Stephan, die Engländer den heil. Georg, die Österreicher den heil. Leopold als Schutzheiligen an. Den Juristen galt der heil. Ivo, den Musikern die heil. Cäcilia, den Malern der heil. Lukas, den Schuhmachern der heil. Crispin als Schutzpatron. Auch gegen besondere Krankheiten wurden bestimmte Schutzheilige angerufen, so Rochus und Sebastian gegen die Pest, die heil. Apollonia gegen Zahnschmerzen u. s. w. – Vgl. Broc de Segange, Les saints patrons des corporations et protecteurs spécialement invoqués dans les maledies et dans les circonstances critiques de la vie (2 Bde., 1888).

Opposition gegen die Heiligen- (und Reliquien-) Verehrung tritt vereinzelt schon bei Vigilantius (s. d.) hervor. Eine Synode zu Frankfurt a. M. (794) verbot die Anrufung neuer Heiligen, und Karl d. Gr. verschärfte dieses Verbot (805). Aber sowohl diese Bemühungen als die des 12. und 13. Jahrh., die Hagiolatrie einzuschränken, blieben erfolglos. Im 14. und 15. Jahrh. wurde sie von den Humanisten mit den Waffen der Wissenschaft und oft beißender Satire bekämpft. Die Reformation aber verwarf die Anrufung und Verehrung der Heiligen als Schmälerung des Verdienstes Christi, des alleinigen Mittlers, und als pelagianischen, die Möglichkeit sündloser Vollkommenheit für die Menschen voraussetzenden Irrtum. Höchstens zur Stärkung des Glaubens sei es nützlich, das Andenken der Heiligen zu bewahren. Seitdem gerieten in der prot. Kirche die Heiligentage in Vergessenheit und Heiligenbilder und Reliquien verschwanden aus den Gotteshäusern. Während die Katholiken außer der Schar von Heiligen noch eine heilige Jungfrau, einen heiligen Vater, eine heilige Kirche, einen allerheiligsten Glauben u. s. w. haben, wußten die Protestanten nur von einer Heiligen, d. h. vom Heiligen Geiste eingegebenen Schrift, und bezogen den Ausdruck «heilige allgemeine Kirche» im apostolischen Glaubensbekenntnis auf die unsichtbare Kirche oder die Gemeinschaft der Gläubigen, welche sich erst am Jüngsten Tage vollenden werde. – Vgl. Sailer, Ecclesiae catholicae de cultu Sanctorum doctrina (Münch. 1797); Benedikt ⅩⅣ., De servorum Dei beatificatione et beatorum canonisatione (4 Bde., Bologna 1734; Rom 1735); Hase, Handbuch der prot. Polemik