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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Hindubewegung

tigkeit in allen Teilen Indiens zahlreiche Somādschkirchen entstanden, die einer der drei genannten Richtungen angehören; ihre Zahl beträgt jetzt über 170. Vgl. besonders das seit 1876 von Sophia Dobson Collet herausgegebene Brahmo Year-book (London und Edinburgh); ferner Monier Williams' Artikel: Indian Theistic Reformers im "Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain etc." (Neue Serie, Bd. 13, 1881); desselben Verfassers Religious thought and life in India (Tl. 1, Lond. 1883; 2. Aufl. 1885) und W. J.^[William Joseph] Wilkins' Modern Hinduism (ebd. 1887). - Verwandt in socialer Hinsicht (Abschaffung des Kastenwesens und der Polygamie, Förderung der Mäßigkeit u. s. w.), aber wesentlich verschieden in religiöser Beziehung sind die Ziele der theosophischen Gesellschaften, die von der europ. Frau Blavatsky (die sieben Jahre im Himalaja zubrachte und von Rischis [Weisen] und Fakiren [Büßern] in die Geheimnisse des ind. Occultismus eingeweiht wurde) und dem buddhistischen nordamerik. Oberst Olcott in Madras, Bombay, Lahaur, Kalkutta und manchen andern Städten Indiens seit etwa 15 Jahren gegründet worden sind, als Zweiggesellschaften der von Frau Blavatsky in Nordamerika (wo Olcott ihr Schüler wurde) ins Leben gerufenen Theosophical Society, die auch in England, Frankreich und Deutschland Anhänger zählt. Die Lehre dieser Theosophen, deren Organ in Indien der seit Okt. 1879 in Bombay erscheinende "Theosophist" ist, bildet ein Gemisch aus der Philosophie des Buddhismus, der Mystik des Hinduismus und dem modernen amerik. Spiritismus. Durch häufige Missionsreisen suchten die beiden Begründer der theosophischen Richtung in Indien überall Anhänger zu gewinnen, wobei Oberst Olcott sich in leidenschaftlichen Ausfällen gegen das Christentum und die Bibel gefiel, während die Brāhmos (die Anhänger des Brahmosomādsch) dem Christentum sehr sympathisch gegenüberstehen. Polit. Fragen sind von der Beratung in den theosophischen Gesellschaften ausgeschlossen. Bei Aufnahme neuer Jünger wird weder auf die bisherige Religion, noch auf Rasse oder Kaste gesehen.

In engstem Zusammenhange mit den religiösen Bestrebungen (speciell des Brahmosomādsch) stehen bei den Hindu die Reformbewegungen auf socialem Gebiete, die sich hauptsächlich auf folgende Punkte richten, unter denen die Frauenfrage in verschiedenen Formen die Hauptrolle spielt: Civilehe; Hinaufrückung der Altersgrenze für die Eheschließung (besonders der Mädchen); Einführung bez. Verbreitung des Unterrichts für Mädchen, besonders in eigenen Mädchenschulen; Zulässigkeit der Wiederverheiratung von Hinduwitwen und Hebung der unglückseligen socialen Stellung dieser Witwen. - Den Anlaß zur Einführung des Gesetzes über die fakultative Civilehe (Native Marriage Act vom 22. März 1872) bildeten die Streitigkeiten über die rechtliche Gültigkeit der von 1861 an stattgehabten Eheschließungen der Brāhmos, soweit sie nach dem neuen Brahmoritual statt nach dem von alters her gültigen Hinduritual vorgenommen worden waren. Das der eifrigen Agitation Kēschab Chander Sēns und seiner Anhänger zu verdankende Civilehegesetz erklärt alle vor dem Registrar (Standesbeamten) abgeschlossenen Ehen (ohne Rücksicht auf spätere religiöse Ceremonien) für rechtsgültig, auch bei Angehörigen verschiedener Konfessionen oder Kasten; setzt das Mindestalter des Bräutigams auf 18, das der Braut auf 14 Jahre fest; verlangt die schriftliche Zustimmung der Eltern oder Vormünder, wenn der Bräutigam oder die Braut das Alter von 21 Jahren nicht erreicht hat; verbietet Bigamie sowie die Heirat für bestimmte Grade der Blutsverwandtschaft, und gestattet die Wiederverheiratung von Hinduwitwen. Vorläufig werden die Segnungen dieses Gesetzes verhältnismäßig erst wenigen zu teil; denn nach der bis jetzt fast allgemein geltenden ind. Sitte muß sich ein Mädchen im Alter von 8 bis 10 J. verheiraten. Zwar ist die Eheschließung in diesem Falle, wenn der Mann am Leben bleibt, gewissermaßen nur als gerichtliche oder notarielle Verlobung in unserm Sinne aufzufassen, und die thatsächliche Vollziehung der Ehe wird etwa bis zum 12. oder 14. Lebensjahre der Frau verschoben; aber die Jungverheiratete gilt beim Tode ihres Mannes, ob dieser nun vor oder nach dem thatsächlichen Vollzuge der Ehe erfolgt, in jedem Falle als Witwe und darf sich, nach orthodoxer Auffassung, nicht wieder verheiraten. Gelingt es, die Altersgrenze für Mädchen allgemein bis auf das 14. Jahr hinaufzurücken und die Ehevollziehung bis zum 15. oder 16. Jahre zu verschieben, so ist damit ein bedeutender Fortschritt zur körperlichen Kräftigung und geistigen Hebung der Hindurasse erreicht. - Die Thatsache, daß die meisten jungen Inder der wohlhabendem Klassen in Privat- oder Staatsschulen Englisch lernen und so mit der abendländ. Kultur mehr oder weniger vertraut werden, ja großenteils eine ganz europäische, event, akademische Erziehung erhalten, führt notwendig zu der Folge und wird in Zukunft immer mehr dahin drängen, daß ein gebildeter junger Inder ein ungebildetes Mädchen nicht zur Frau nehmen wird; die Eltern werden mithin mehr und mehr gezwungen werden, ihre Töchter unterrichten zu lassen. Zwar sträuben sich die orthodoxen Hindu (nicht die Mohammedaner) mit aller Macht gegen den von ihnen verabscheuten Mädchenunterricht, von dem sie glauben, daß er die Unsittlichkeit fördere; jedoch wird die Notwendigkeit und der Nutzen dieses Unterrichts, der zum Teil durch Privatlehrerinnen in den Sanānas oder Frauenabteilungen der Häuser, teils in öffentlichen Schulen gegeben wird, von den vernünftiger Denkenden in wachsendem Maße erkannt. - Die körperlichen und seelischen Leiden, die der Frau beim Tode ihres Gatten harren, sind zahllos, grausam, zum Teil unsäglich; die Hinduwitwe gilt als niedrigste Dienstmagd im Hause ihrer Schwiegereltern, darf keinerlei Schmuck oder gute Kleider tragen, erhält nur die schlechtesten Speisen und muß an vielen Tagen des Jahres 24 Stunden hindurch vollständig fasten, wobei ihr nicht einmal ein Tropfen Wasser gegeben werden darf; dazu kommt, als Krone des Ganzen, die verächtliche Behandlung seitens aller Hausangehörigen außer ihren Kindern. Eine Besserung der fragwürdigen Stellung und des elenden Loses dieser oft noch im Kindesalter stehenden Witwen würde sich, besonders unter dem Schutze des Native Marriage Act, dann ergeben, wenn es gelänge, die in Bezug aus sie bestehenden Vorurteile zu brechen, so daß ihnen die nur bei den Hindu aus den allerniedrigsten Kasten erlaubte Wiederverheiratung nicht zur Schande angerechnet würde, und daß ihre Angehörigen ihnen gestatteten, sich verschiedenen Berufszweigen (z. B. dem der Lehrerinnen) zu widmen. Bis heute jedoch gilt eine Hinduwitwe fast allgemein