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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Homer (griech. Dichter)

des Aristophanes von Byzanz und vor allen des Aristarchus (s. d.). Diese Gelehrten suchten nach den besten Ausgaben und den durch eigene Beobachtung gefundenen Regeln Sprache und Versbau des H. kritisch festzustellen und nach einem von ihnen selbst gebildeten kritisch-ästhetischen Kanon das Unechte vom Echten zu sondern. Die mit den kritischen Zeichen versehene Ausgabe des Aristarch verschaffte sich bald maßgebende Geltung, und seine in verschiedenen Schriften niedergelegten Homerischen Studien wurden weiter ausgeführt durch zahlreiche unmittelbare und mittelbare Schüler, unter denen Aristonicus, Didymus, Nikanor und Herodianus (s. d.) die bedeutendsten sind. Weniger ist man über die Homerischen Studien der Pergamenischen Schule (des Krates von Mallos) unterrichtet. Die Schriften der genannten Kritiker bilden die Grundlage der Scholien zur Ilias, die in dem berühmten Codex der Bibliothek von Venedig erhalten und von Villoison zuerst bekannt gemacht worden sind (Vened. 1788). Eine Ausgabe sämtlicher Scholien unternahm I.^[Immanuel] Bekker (2 Bde., Berl. 1825), eine neuere Dindorf (4 Bde., Lpz. 1875-77), fortgesetzt von Maaß (2 Bde., Oxford 1888). Weniger reichhaltig sind die Scholien zur Odyssee (hg. von Dindorf, 2 Bde., Lpz. 1855). Auch sind Kommentare zu Ilias und Odyssee aus der byzant. Zeit von Eustathius (s. d.) erhalten.

Im Abendlande war H. während des Mittelalters so gut wie vergessen. Erst mit dem Wiedererwachen der humanistischen Studien und der Verbreitung der Kenntnis griech. Sprache und Litteratur im Abendlande begann wieder das eifrige Studium H.s, dessen erste gedruckte Ausgabe von Demetrius Chalkondylas in Florenz (1488) erschien. Der aus dem Altertum überkommene Glaube an einen persönlichen H., der mit bewußter Kunst die beiden großen Epen allein gedichtet habe, wurde nach manchen vereinzelten Zweifeln Früherer zuerst wissenschaftlich bekämpft von F. A. Wolf (s. d.) in seinen berühmten "Prolegomena ad Homerum" (Bd. 1, Halle 1795; neuer Abdruck, ebd. 1859 und Berl. 1873; 2. Aufl. 1876; vgl. auch Volkmann, Geschichte und Kritik der Wolfschen Prolegomena, Lpz. 1874). Er stellte die Ansicht auf, an jedem von den beiden Epen seien mehrere Dichter nacheinander thätig gewesen; einer habe das Liedergewebe begonnen und andere hätten es fortgesetzt; alles sei nur im Gedächtnis festgehalten und Jahrhunderte hindurch mündlich fortgepflanzt worden, bis Pisistratus die Gesänge aufschreiben und die einzelnen Teile zu den beiden großen Epen vereinigen ließ. Wolf faßte fast nur die äußern Zeugnisse, die Nachrichten der Alten über die Gedichte, die geschichtlichen Zeugnisse über das Alter der Schreibkunst bei den Hellenen u. dgl. ins Auge, und es hat sich herausgestellt, daß diese keinen irgend zuverlässigen Aufschluß über den Ursprung der Homerischen Gedichte gewähren können. Nach Wolf wandte sich die Forschung mehr der innern Seite der Homerischen Frage zu, indem man aus dem Inhalt der Gedichte, namentlich aus den fachlichen Widersprüchen, den Wiederholungen und den sonstigen Unebenheiten der Komposition, in neuerer Zeit namentlich auch aus der Sprachform und dem Versbau Anhaltspunkte für die Bestimmung der Entstehungsweise der beiden Epen zu gewinnen trachtete. Hierher gehören die Homerischen Arbeiten von Lachmann, G. Hermann, Nitzsch, Grote, Köchly, Bergk, Kirchhoff, Christ, von Wilamowitz u. v. a.

Daß diese Schriften die Frage wirklich gelöst hätten, kann nicht behauptet werden. Nur ungefähr Folgendes ist bis jetzt wahrscheinlich gemacht. In einem Zeitalter, wo das Griechenvolk die Schrift zwar vielleicht schon kannte, aber noch nicht zur Aufzeichnung von Dichtungen verwendete, hat es epische Lieder gegeben, in denen Kämpfe von griech. Helden gegen Barbaren besungen wurden. Mit der Heldensage verband sich Göttersage, später auch das Volksmärchen (Abenteuer des Odysseus). Äolische und ion. Stämme brachten bei ihrer Wanderung von Griechenland nach Kleinasien diese Heldenlieder dorthin. Die Kolonisationskämpfe gaben der Sage neue Nahrung und wesentliche Züge kamen neu hinzu. Indem die Lieder speciell bei den Ioniern mehr und mehr Verbreitung und Pflege fanden, wurde ihre Sprachform, die anfangs die äolische gewesen war, allmählich in die ionische umgesetzt; doch blieb noch eine Reihe von Äolismen, besonders aus metrischen Gründen, zurück. Die Kunst des epischen Gesanges konnte zunächst von jedermann im Volke geübt werden. Allmählich aber bildete sich ein Sängerstand heraus, die Aöden (Phemios und Demodokos in der Odyssee). Die Lieder wurden anfangs singend und mit Lautenspiel vorgetragen; später kam das musikalische Element in Wegfall und es wurde nur recitiert, von den sog. Rhapsoden. Zu einer Zeit nun, als das epische Volkslied nicht mehr völlig flüssig war, als berufsmäßige Aöden oder Rhapsoden sich in der Regel schon an eine fest überlieferte Form des Liedes gebunden fühlten, kam einer auf den Gedanken, eine größere Anzahl von Liedern zu einer Einheit zusammenzufassen und zwar mit Benutzung der Schreibkunst. Eine gewisse planmäßige Einheit war schon in den Einzelliedern vorhanden, indem die Sage etwas Zusammenhängendes war. Es mußte aber noch die künstlerische Abrundung des Ganzen hinzukommen. Der Epopöenverfasser benutzte die ihm bekannten Lieder ihrem überlieferten Wortlaut nach, doch mußte er vielfach einzelne Verse und ganze Versgruppen weglassen und wiederum neue, im Stil des Überlieferten, hinzudichten. Wie viel nun zu dieser Ur-Ilias und Ur-Odyssee im einzelnen später noch hinzukam, ist schwer zu sagen. Das meiste, was man als Beweis für eine schichtenweise Entstehung der beiden Epopöen als solcher vorgebracht hat, beweist nichts, weil es aus der Verschiedenheit der zu Grunde gelegten Einzellieder erklärt werden kann. Auch bleibt unsicher, ob Ilias oder Odyssee durch denselben Mann die Epopöengestalt erhalten haben; jedenfalls hat man aber die Odyssee mindestens für ein paar Jahrzehnte jünger als die Ilias zu halten.

Eine Übersicht über die in zahllosen Einzelschriften zerstreuten Forschungen geben: Friedländer, Die Homerische Kritik von Wolf bis Grote (Berl. 1852); G. Curtius, Andeutungen über den gegenwärtigen Stand der Homerischen Frage (Wien 1854); Bonitz, Über den Ursprung der Homerischen Gedichte (5. Aufl., ebd. 1881); Düntzer, Homerische Abhandlungen (Lpz. 1872); ders., Die Homerischen Fragen (ebd. 1874); Niese, Die Entwicklung der Homerischen Poesie (Berl. 1882); R. C. Jebb, Homer, an introduction to the Iliad and the Odyssey (3. Aufl., Glasgow 1888).

Auch die kritische Feststellung des Textes ist durch F. A. Wolf wesentlich gefördert worden, indem er die hauptsächlich aus den Scholien zu ermittelnde