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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Islam

der Anerkennung Allahs und des Propheten auch die des Ali zum Ausdruck ('Alî walî Allâh). Hinsichtlich des Verkehrs mit Nichtmohammedanern beobachten sie unduldsamere Gesetze als die Sunniten. Das mohammed. Gesetz nach der Lehre der Schi'iten ist systematisch von Querry, "Droit musulman, recueil de lois concernant les Musulmans Schyites" (2 Bde., Par. 1872), dargestellt worden. Aus dem Kampfe des Ali gegen Mo'awija ist auch die Partei der Châridschiten (s. d.) hervorgegangen, die die Imamlehre sowohl der Sunniten als auch der Schi'iten verwirft.

Neben diesen polit. Sekten haben sich mit der Ausbreitung des I. in Syrien und Mesopotamien auch dogmatische Parteien herausgebildet, deren Streitigkeiten sich zumeist um den Gottesbegriff, die Offenbarungslehre und die Anschauungen über den freien Willen und den Fatalismus bewegten. Während sich die Orthodoxen in allen Dingen an den Wortlaut des Koran hielten, die Existenz von Attributen Gottes zuließen und die anthropomorphistische Gottesvorstellung nicht zurückwiesen, den Koran als von Ewigkeit her niedergeschrieben betrachteten und die Anerkennung der freien Selbstbestimmung des Menschen entschieden zurückwiesen, hingegen seine völlige Abhängigkeit von der Vorherbestimmung (Kadar) Gottes lehrten, traten unter dem Einfluß ähnlicher Disputationen in der christl. Kirche und namentlich auch durch philos. Einflüsse auf den I. rationalistische Regungen in den mohammed. Schulen hervor. Im 8. Jahrh. lehrte Wâßil ibn 'Atâ (gest. 748) die Unvereinbarkeit der Attribute mit dem geistigen Wesen der Gottheit, verwarf die Lehre von der Ewigkeit des Koran und lehrte, daß der Koran gleichzeitig mit der Verkündigung durch den Propheten entstanden sei. Diese rationalistische Schule nennt man im Gegensatze zur orthodoxen Lehre die Mu'tazila, ihre Anhänger Mu'taziliten (s. d.). Die Bekenner der Willensfreiheit werden im Gegensatz zu den orthodoxen Anhängern der Lehre von der absoluten Vorherbestimmung, die man Dschabariten nennt, mit dem Namen Kadariten bezeichnet. Neben diesen Parteien ist noch die der Murdschi'ten zu nennen, vielleicht die älteste unter den dogmatischen Parteien des I. Sie lehrte, ursprünglich angesichts des dem Gesetze des I. widerstrebenden praktischen Verhaltens der omajjadischen Herrscher und Machthaber, die von den Rigoristen gar nicht als Angehörige des I. anerkannt wurden, daß die Übertretung des Gesetzes den Bekenner des I. nicht aus dem Verbände der Rechtgläubigen ausschließe. Eine Sonderstellung gegenüber der orthodoxen Lehre haben jedoch die Murdschi'ten niemals eingenommen, und die Orthodoxie ist ihnen auch nicht feindlich entgegengetreten. Die freisinnigen Lehren erhoben sich von Ma'mun an unter einigen 'abbasidischen Chalifen zu offizieller Geltung und wurden mit Anwendung von Zwangsmaßregeln verbreitet; unter Mutawakkil (847) gelangte jedoch wieder die orthodoxe Reaktion zur Herrschaft. Viel Spitzfindigkeit hat sich schon in früher Zeit an diese dogmatischen Streitigkeiten angesetzt und hat zur Definierung einer Menge von Lehrmeinungen innerhalb der einzelnen dogmatischen Schulen geführt, die man am besten aus Schahrastânis "Book of religious and philosophical sects" (arabisch hg. von Cureton, Lond. 1846; deutsche Übersetzung von Th. Haarbrücker, "Religionsparteien und Philosophenschulen", 2 Bde.,

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Halle 1850-51) kennen lernen kann. Erst dem Asch'ari (Anfang des 10. Jahrh.) ist es gelungen, einen vermittelnden Standpunkt zu schaffen; die dogmatischen Definitionen der Asch'aritischen Schule gelten nun als die rechtgläubige Lehre und werden mit sunnitischem I. identifiziert.

Es ist ein vielfach verbreiteter Irrtum, die innerhalb des orthodoxen I. Zur Geltung gekommenen gesetzlichen Schulrichtungen (Madsahib) als Sekten zu bezeichnen. Die verschiedenen Ergebnisse, die aus der selbständigen Anwendung der Gesetzesquellen des I. (s. Fikh) entsprangen, sind in vier orthodoxen Schulrichtungen, der hanesitischen, schafi'itischen, mâlikitischen und hanbalitischen zum Ausdruck gekommen, von denen die erstgenannte unter den Bekennern des I. die weitaus verbreitetste ist; sie ist in allen Teilen des türk. Kaiserstaates herrschend. Die in diesen Schulen ausgebildeten civil- und strafrechtlichen Bestimmungen haben jedoch in einem großen Teile der mohammed. Welt nur theoretische Bedeutung, da sich neben ihnen die dem I. accommodierten alten Gewohnheitsgesetze (Adat oder 'Urf) der verschiedensten zum I. bekehrten Völker in Geltung erhalten haben. Sehr verbreitet ist die Geltung der 'Adat in den mohammed. Kolonien des niederländ. Reichs; die dem mohammed. Gesetze häufig grundsätzlich widerstrebenden 'Adatgesetze der nordafrik. Kabylen sind im Auftrage der franz. Regierung von Hanoteaux und Letourneux ("La Kabylie et les coutumes kabyles", 3 Bde., Par. 1872-73) gesammelt worden.

Auf die Gestaltung des I. hat einerseits die Berührung mit fremden Kulturelementen, andererseits die Fortwirkung der ererbten Überlieferungen der unterworfenen Völker wesentlichen Einfluß geübt. Die theoretischen Einwirkungen fremder Kulturelemente zeigten sich in dem Einfluß, den das in den christl.-syr. Schulen herrschende röm. Recht in seiner byzant. Gestaltung auf die Ausbildung der mohammed. Gesetzeswissenschaft (Fikh) und den das Studium der Aristotelischen Philosophie auf die Dogmatik des I. übte. (S. Arabische Sprache und Litteratur, unter: Theologie, Philosophie, Bd. 1, S. 792a.) Pers. und ind. Einflüsse zeigten sich im Sufismus (s. d.), der in vielen hervorragenden Vertretern unverkennbaren Pantheismus, zuweilen auch die Nirwanalehre in mohammed. Form lehrt (s. auch Bâbi). In dieser Geistesrichtung hat jedoch der offizielle I. immer eine arge Ketzerei erblickt. Bedeutsamer sind die Wirkungen, die die latente Fortdauer der ererbten Überlieferungen der Völker auf die Gestaltung des I. übte. Die alten Religionsvorstellungen und Gebräuche der unterworfenen Völker haben sich im I. umgebildet und sind in dieser Umgestaltung wichtige Bestandteile des volkstümlichen I. geworden. Das zeigt sich in der Fortdauer volkstümlicher Festgebräuche, besonders aber im Heiligenkultus des I., der, obwohl der ursprünglichen starr monotheistischen Lehre des I. völlig entgegenstrebend, doch in der mohammed. Welt zu großer Bedeutung gelangt ist. Aus göttlichen Personen wurden Heilige, aus heiligen Orten wurden Heiligengräber. In dieser Weise haben sich Reste des alten Stein- und Baumkultus u. a. m. im I. bis in die Gegenwart erhalten. In neuester Zeit hat die Opposition der Puritaner gegen die der Sunna nicht entsprechenden Auswüchse, besonders gegen den Kultus der Heiligen und der Heiligengräber, zu wirklichem Kampfe geführt, der