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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Juden

In Deutschland finden wir die J. im 8. Jahrh. in den Rheinstädten, im 10. in Sachsen und Böhmen, im 11. in Franken, Schwaben und Österreich, besonders in Wien. Ihre Lage war in diesen Ländern zwar unsicher, indem sie namentlich im Anfang ganz der Willkür der landschaftlichen kleinen Feudalherren preisgegeben waren, die ihnen, abgesehen von gelegentlichen Ausplünderungen, lästige Abgaben der verschiedensten Art auferlegten, unter denen besonders der an jeder neuen Landesgrenze der zahlreichen Territorien zu zahlende Leibzoll (eine Steuer zur Sicherung des Lebens und Eigentums) drückend war. Aber mit der Zeit entwickelte sich aus dem Schutz, den der Kaiser den J. insgemein zusicherte, das Verhältnis der sog. Kammerknechtschaft. (Vgl. Schwabenspiegel, Kap. 349, §. 4.) Die J. galten als Eigentum des Kaisers, der ihnen nunmehr die vielen kleinen Blutsauger fern hielt, um selbst etwas an ihnen zu haben. Freilich, wenn die Kaiser selbst in Geldnot gerieten, dann hatten die J. außer dem sog. goldenen Opferpfennig (etwa 1 Fl.) manches nebenbei an sie zu zahlen. Immerhin war trotz solcher Bedrückungen die Lage der J. in den christl. Ländern günstig und ihre Behandlung menschenwürdig.

Dies änderte sich jedoch mit dem Beginn der Kreuzzüge. Das durch dieselben gesteigerte christl. Selbstgefühl empfand es bald als etwas Unerträgliches, überhaupt nichtchristl. Elemente in seiner Mitte dulden zu sollen. Bei der Bildungsstufe der Zeit konnte es der pfäffischen Hetzerei nicht schwer fallen, den Fanatismus der Massen zu brutalen Ausbrüchen zu treiben. An der Geburtsstätte der Kreuzzüge, in Frankreich, entzündete sich auch zuerst das Feuer der Judenverfolgungen. Nachdem im 11. Jahrh. in einzelnen Tumulten viele J. zur Taufe gezwungen waren, schritt 1180 Philipp August dazu fort, sie mit den härtesten Erpressungen heimzusuchen und sie 1181 aus dem Lande zu jagen. Wie so oft zeigte es sich auch hier, daß die J. infolge des unsinnigen Zinsverbotes der Kirche an die Christen für die damalige Finanzwirtschaft gar nicht zu entbehren waren. Man rief sie 1198 wieder zurück. Aber der Fanatismus ruhte nicht. Es entluden sich im 14. Jahrh. in immer neuen Schlägen die ärgsten Drangsale über die J., die man damals vorzugsweise der Brunnenvergiftung beschuldigte. - Die Flamme des Religionshasses züngelte nach Deutschland hinüber. Der erste Kreuzzug begann hier mit zahlreichen Judenmetzeleien, deren furchtbarste 1096 stattfanden. (Vgl. Neubauer und Stern, Hebr. Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge, Berl. 1892.) Noch gesteigert wurde der Haß durch die Vorwürfe der Hostienschändung, der Brunnenvergiftung und besonders durch die sog. Blutbeschuldigung (Ermordung von Christenkindern zur Gewinnung von Blut bei Bereitung der Mazzoth). Vergeblich suchte Bernhard von Clairvaux die Mordlust zu zügeln. Nur hier und da vermochte Kaiser Konrad seine "Kammerknechte" zu schützen. Etwa 80 Judengemeinden wurden gänzlich ausgerottet. Namentlich die Plage des Schwarzen Todes 1348-50, die man als Strafe Gottes wegen Duldung des christusmörderischen Volks ansah, steigerte den Fanatismus gegen die J., der besonders von den herumziehenden Flagellanten aufgeregt wurde. Trotzdem sah man sich aus denselben Gründen wie in Frankreich genötigt, die J. wieder zurückzurufen, und wie dort, so kamen sie auch hier immer wieder. Der alte Erwerbstrieb war zu mächtig; er überwand die Scheu selbst vor den furchtbarsten Gefahren und Leiden. Namentlich im rhein. und fränk. Kreise, in Hessen, Sachsen und Brandenburg erfolgten bald neue Ansiedelungen. Doch mancherlei Beschränkungen mußten die J. von jetzt ab dauernd ertragen. Man wies ihnen meist abgesonderte Quartiere (s. Ghetto) in den Städten an; sie mußten eine besondere Tracht oder gewisse Abzeichen anlegen: langen Mantel, den Judenhut (s. d.), Gugeln (kugelförmige, über den Kopf zu ziehende Kapuzen), einen gelben Flecken (rota) am Kleide (später trat auch Bartzwang ein, als sonst das Barttragen abkam), die Frauen einen grauen Schleier. Ihr Eid erhielt besondere, oft kränkende Formen, ihren Gottesdienst sollten sie in Winkeln in aller Stille ausüben. In allen Dingen ward ihnen ein Brandmal des Verabscheuungswürdigen aufgeprägt. Ihre Beschäftigung sollte nur Handel und Wucher sein. In einigen Reichsstädten kam es zu dauernden Verbannungen. Auch brachen von Zeit zu Zeit neue blutige Verfolgungen aus, besonders im 15. Jahrh. infolge der Predigten des fanatischen Franziskaners Johannes Capistranus 1452-55. (Vgl. Stobbe, Die J. in Deutschland während des Mittelalters, Braunschw. 1860.) - Auch aus der Schweiz wurden die J. vielfach ausgewiesen.

In England, wo seit dem 9. Jahrh. J. vorkommen, hatte ihre Zahl sich unter Wilhelm dem Eroberer sehr gemehrt. Sie lebten in Wohlstand und unangefochten, bis die durch die Kreuzzüge entfachte Flamme des Judenhasses auch nach England hinüber schlug. Nach vielen Verfolgungen kam es zuletzt 1290 zur Landesverweisung (the English exodus). (Vgl. Schaible, Die J. in England vom 8. Jahrh. bis zur Gegenwart, Karlsr. 1890.) - Auch in den osteurop. Ländern verschlimmerte sich ihre anfänglich günstige Lage. In Polen und Litauen ging es ihnen unter Kasimir III. gut, und viele Flüchtlinge aus Deutschland und der Schweiz suchten hier besonders seit 1348 Zuflucht. Doch Kasimir IV. hob alle ihre Privilegien wieder auf (vgl. Ph. Bloch, Die Generalprivilegien der poln. Judenschaft, Posen 1892) und legte ihnen dieselben Beschränkungen auf, wie sie in Deutschland statthatten. (Vgl. Wellstein, Quellenschriften zur Geschichte der J. in Polen, Krak. 1892.) - Auch aus Rußland, wo man ihre Spuren vom 10. Jahrh. ab findet, wurden sie im 15. Jahrh. ausgewiesen. Ebenso 1526 aus Ungarn. - Unter den roman. Ländern war besonders Italien bisher judenfreundlich gewesen. Merkwürdig war es befonders, daß die J. gerade an dem Hauptsitze der Hierarchie, in Rom, sich besondern Schutzes erfreuten. Auch mit der Bevölkerung Roms wie des ganzen Italien standen die J. in freundlichem Einvernehmen, oft auch in freundschaftlichem Verkehr. Erst mit Innocenz III. wurde die Haltung feindlich und kam auch in den Bestimmungen des Laterankonzils von 1215 zum Ausdruck. Doch trotz alledem gelang es nicht, die Bevölkerung zum Haß gegen sie zu entflammen. Die von Ferdinand dem Katholischen 1493 angeordnete Vertreibung der J. aus Sicilien fand nicht ohne Widerspruch des Volks statt. Erst später gelang es fanatischen Franziskanern an einigen Orten, die Bevölkerung gegen die J. aufzureizen. (Vgl. M. Güdemann, Geschichte des Erziehungs-^[folgende Seite]