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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Juden

Durch die Verfassungen von 1814 bis 1830 und das Gesetz von 1831, kraft dessen der Staat die Rabbinen besoldet, wurde die Gleichstellung oder sog. Emancipation der französischen J. vollendet. Gleiche Grundsätze herrschen in Belgien, wo sie ebenfalls vollständig seit 1796 emancipiert sind und auch zu den höchsten Staatsämtern zugelassen werden. Die seit 1657 wieder in England zugelassenen J. erlangten 1723 das Recht, Grundeigentum zu erwerben. Zum Parlament werden sie seit 1858, zu Staatsämtern seit 1859 zugelassen. In dem frei gewordenen Holland fanden 1603 die portugiesischen J. ein Asyl; sie sowohl als die deutschen J. lebten hier frei, wiewohl vom Bürgerrecht ausgeschlossen, das sie erst 1796 erhielten. Das Staatsgrundgesetz von 1814 bestätigte ihre vollständige Emancipation. In Dänemark, wo sie seit 1600 auftraten, erhielten sie 1738 viele Freiheiten und 1814 fast unbeschränktes Bürgerrecht. In Schweden giebt es erst seit 1776 J. in Stockholm und in drei andern Städten; nur einzelne von ihnen erhalten als Auszeichnung das Bürgerrecht. Die Umwandlung des Grundgesetzes 1855 hat auch dort ihre Lage verbessert. In Norwegen, wo ihnen bis vor kurzem jeder Aufenthalt versagt war, gestattet man ihnen gegenwärtig ebenfalls die Ansiedelung im Lande.

Aus dem eigentlichen Rußland, wo Peter I. sie wieder aufgenommen hatte, wurden sie unter der Kaiserin Elisabeth 1743 vertrieben. Unter Katharina II. fanden sie sich wieder ein; von Alexander I. wurden sie mit gewerblichen Freiheiten begünstigt, von Nikolaus I. unter drückende Ausnahmegesetze gestellt. (Vgl. N. de Gradowski, La situation légale des Israélites en Russie, Bd. 1 [bis auf Nikolaus I.], 1891.) Sie stehen hier unter einer alle ihre Verhältnisse regelnden jüd. Oberbehörde, dem sog. Kagal (s. d.), der oft gegen die einzelnen furchtbare Tyrannei übt. Den günstigen Intentionen des Kaisers Alexander II. und anfänglich auch Alexanders III. entsprachen nicht immer die Maßregeln unterer Verwaltungsinstanzen. In Polen fanden sie bei der Regierung Schutz, obgleich sie durch den Druck des Adels, die Vorurteile des Volks und zuweilen durch Aufstände, wie 1649 in der Ukraine (vgl. J.^[Jonah] Gurland, Beiträge zur Geschichte der Judenverfolgungen, Krakau 1888) und 1654 in Litauen, viel zu erdulden hatten. Unter eigener Gerichtsbarkeit stehend, vom Staatsleben ausgeschlossen, als Handeltreibende, Branntweinschenker u. dgl. blieben sie in jeder Beziehung hinter ihren westeurop. Glaubensgenossen zurück. In Ungarn, wo sie 1685 Ofen verteidigen halfen, haben sie gesetzlich ihre volle Gleichstellung erlangt, desgleichen in Siebenbürgen. In der Schweiz waren sie seit dem 16. Jahrh. nur in Endingen und Langenau geduldet; später thaten einige Kantone Schritte zu größerer Duldung. Seit 1863 wurden die J. für die ganze Schweiz in gleiche Rechte mit den übrigen Einwohnern eingesetzt. In Spanien, wo sie erst seit 1837 wieder geduldet sind, obwohl das Verbannungsedikt formell noch nicht aufgehoben ist, giebt es sehr wenig J. In Portugal, wo sie keine Staatsbürgerrechte haben, leben fast nur deutsche und englische J. - Durch Engländer und Holländer wurden die Einwanderungen der J. in Amerika veranlaßt. In Canada erfolgte 1832 ihre Emancipation. In den Vereinigten Staaten von Amerika wurden sie schon 1778 allen übrigen Konfessionen gleichgestellt; ebenso in Australien, wo sich viele J. angesiedelt haben.

Ein wechselndes Bild gewährte seit dem 16. Jahrh. das Los der J. in Deutschland. Von Ehre und Bürgertum, Grundbesitz und Zünften, selbst von vielen Handelszweigen ausgeschlossen, zu Wucher und Kleinhandel genötigt, stets von harten Gesetzen gehemmt, erkauften sie ihre Existenz mit erniedrigenden unter mehr als 60 Benennungen ihnen auferlegten Abgaben. In mehrern Orten wurden sie gar nicht geduldet, aus andern vertrieben und selten wieder zugelassen. Meist nahm man nur eine festgesetzte Zahl auf, und das Gesetz teilte sie in zahllose Klassen. Auch gab es gegen sie gerichtete Volkstumulte. Nur hier und da erhielten sie Vergünstigungen. Im ganzen dauerten die harten Schutzprivilegien und Judenordnungen sowie die härteste Behandlung der J. fort, bis polit. und religiöse Freiheit als Gemeingut anerkannt wurden. Namentlich traten Lessing, Mendelssohn und Dohm seit 1778 für die J. ein, und das österr. Toleranzedikt von 1782 hatte in mehrern deutschen Staaten eine Reihe wohlthätiger Verordnungen für sie zur Folge. 1797 wurde die Stellung der J. auch in Böhmen verbessert, und seit 1803 in ganz Deutschland (in Preußen schon 1787) der Leibzoll aufgehoben. Eine noch bessere Lage ward den J. infolge der Auflösung des Deutschen Reichs. Nachdem Westfalen unter Jérôme ihnen 1808 das Bürgerrecht und eine Gemeindeverfassung verliehen hatte, folgten ähnliche Schritte in andern deutschen Staaten. Das preuß. Edikt vom 11. März 1812 erklärte sie für Inländer und preuß. Staatsbürger. Allein seit 1814 erfolgten in verschiedenen deutschen Staaten hinsichtlich der Emancipation der J. Rückschritte, obgleich die deutsche Bundesakte die Aufrechthaltung der denselben verliehenen Rechte zugesagt hatte. In Preußen wurden sie von Lehr- und Gemeindeämtern, von der Beförderung beim Militär und in den Rheinlanden vom Geschworenengericht ausgeschlossen. Den Kampf für die Emancipation führten besonders die von Gabriel Rießer 1831 gegründete Zeitschrift "Der Jude" und Ludwig Philippsons "Allgemeine Zeitung des Judentums" seit 1837. Eine vollständige Regelung erstrebte das preuß. Gesetz vom 23. Juli 1847 über die Verhältnisse der J.; in den §§. 8 fg. wurde ein von den Gerichten zu führendes Register über die bürgerliche Beglaubigung der Geburts-, Heirats- und Sterbefälle unter den J. angeordnet. Die Verfassung vom 31. Jan. 1850 sprach die volle Gleichstellung der J. mit den übrigen Staatsgenossen aus, deren Durchführung allerdings von der kirchlich-polit. Reaktion der folgenden Jahre manche Hemmnisse bereitet wurden. Das Reichsgesetz vom 3. Juli 1869 hat alle noch bestehenden Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte der J. aufgehoben. Die sog. Reichsjustizgesetze haben dann auch die damals noch zum Teil in Deutschland bestehende Jurisdiktion der Rabbiner beseitigt. - In Ansehung der Eheschließung bestanden bis in ziemlich neue Zeit hinein Verschiedenheiten. Das Reichsgesetz vom 6. Febr. 1875 hat indessen auch solche Verschiedenheiten in Deutschland beseitigt. Dagegen besteht in einzelnen Teilen Deutschlands das jüd. Ehescheidungsrecht noch zu Recht, z. B. nach einem hannov. Gesetz von 1842, §. 4, nach einem bayr. Gesetz von 1851, Art. 2, nach einem holstein. Gesetz vom 14. Juli 1863, §. 8 (vgl. auch Sächs. Bürgerl. Gesetzb. §. 1770). Jedoch dürfte nur das materielle Ehescheidungsrecht Geltung haben; wenigstens wäre