Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

980

Juden

es bedenklich, der Zufertigung eines Ehescheidungsbriefes, wie sie nach dem Rechte des Talmud genügen würde, Wirkungen auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts beizulegen. Das geltende Recht kennt ferner auf dem Gebiete des ehelichen Güterrechts und des Erbrechts noch Abweichungen für Bekenner des jüd. Glaubens. Zwar wird von einigen behauptet, diese hätten mit Geltung des Reichsgesetzes vom 3. Juli 1869 ihre Bedeutung verloren, indessen wird diese Auffassung keineswegs von allen namhaften Rechtslehrern gebilligt. Insbesondere findet die allgemeine Gütergemeinschaft nach der Bentheimschen Hof- und Landgerichtsordnung von 1690, nach der Münsterschen Polizeiordnung und in Teilen von Mecklenburg-Strelitz sowie nach einigen andern Rechten für J. nicht Anwendung. In Bayern ist jedoch nach dem Gesetz vom 29. Juni 1851, Art. 1 in Ansehung des ehelichen Güterrechts das für Christen geltende bürgerliche Recht anzuwenden. Nicht unbestritten ist die Beseitigung der Abweichungen für J. in Hohenzollern-Hechingen, in der Stadt Hildesheim und in einigen andern Rechtsgebieten. Einzelne Gesetze haben ausdrücklich ausgesprochen, daß in Ansehung der zur Zeit der Erlassung des betreffenden Gesetzes bestehenden Ehen von J. das jüdische eheliche Güterrecht anzuwenden sei, z. B. schleswigsche Verordnung vom 8. Febr. 1854 und holstein. Gesetz vom 14. Juli 1863. Das Sächs. Bürgerl. Gesetzb. §. 1617 schloß noch Ehen zwischen Christen und Personen, welche sich nicht zur christl. Religion bekennen, aus, ebenso das Preuß. Allg. Landr. II, 1, §§. 36, 939 Ehen mit solchen, welche nach den Grundsätzen ihrer Religion gehindert werden, sich den christl. Ehegesetzen zu unterwerfen. Für Preußen wurde das Ehehindernis durch das Gesetz vom 9. März 1874, §. 56 beseitigt. (Vgl. Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts, 2. Aufl., Berl. 1882, Bd. 1, §. 46; Roth, System des deutschen Privatrechts, Tüb. 1880, Bd. 1, §. 69.)

Österreich-Ungarn hat in seinem Staatsgrundgesetz vom 21. Dez. 1867 die Unabhängigkeit der Ausübung bürgerlicher und polit. Rechte vom Glaubensbekenntnis festgestellt; doch enthält das Österr. Bürgerl. Gesetzbuch in den §§. 123-136 ein besonderes Eherecht für J. im Anschlusse an den Talmud. Auch die neueste Verfassung des Osmanischen Reichs hat die Emancipation der J. ausgesprochen, kann aber in diesem Punkte kaum zur Durchführung gelangen. In sämtlichen Kulturländern Europas und Amerikas hat sich die Gleichstellung der J. vollzogen. Unter Ausnahmegesetzen stehen sie noch in Rußland und Rumänien, wo die Bestimmungen des Berliner Vertrags von 1878 über Gleichstellung aller Unterthanen noch nicht zur Ausführung gekommen sind.

In der neuesten Zeit waren die J. mehrfachen Verfolgungen durch den Pöbel ausgesetzt, namentlich (1881) in den östl. und südöstl. Gouvernements von Rußland (vgl. Les Juifs de la Russie, Par. 1891), sodaß sie zahlreich nach Amerika, besonders nach Argentinien, auswanderten, wo durch Baron M. von Hirsch ihnen ein Asyl bereitet wurde. In Ungarn fand eine Judenhetze durch Erneuerung der Blutbeschuldigung statt (Prozeß von Tisza Eszlar 1882; vgl. P. Nathan, Der Prozeß von Tisza Eszlar, Berl. 1892; H. Strack, Der Blutaberglaube, 4. Aufl., Münch. 1892). Zur antisemit. Bewegung in Frankreich vgl. E. Drumont, La France juive (Par. 1887 u. ö.), und dagegen Leroy-Beaulieu, Israël chez les nations (2. Aufl., ebd. 1893). Auch Deutschland war seit 1880 der Schauplatz einer lebhaften antisemitischen Bewegung, als deren Wortführer namentlich Hofprediger Stöcker in Berlin auftrat (vgl. H. Strack, Herr Adolf Stöcker, 2. Aufl., Karlsr. 1886) und die zur Bildung von antisemit. Vereinen in vielen Orten Deutschlands führte. (S. Antisemitismus, Christlich-sociale Partei, Deutsch-sociale antisemitische Partei.) Im Deutschen Reichstage kam anläßlich einer Interpellation 20. Nov. 1880 die Judenfrage zur Sprache, bei welcher Gelegenheit die Regierung erklärte, daß sie nicht beabsichtige, eine Änderung des bestehenden Rechtszustandes, der die Gleichberechtigung der religiösen Bekenntnisse in staatsbürgerlicher Hinsicht ausspreche, eintreten zu lassen. Seitdem hat der Kampf gegen das Judentum in Deutschland unter dem Namen des Antisemitismus immer heftigere Formen angenommen. Innerlich hat sich die antisemit. Partei in eine konservative und eine radikale Richtung gespalten. - Zum Schutz der Rechte der J. und zur Unterstützung armer Gemeinden ist 1860 die Alliance Israélite Universelle (s. d.) zusammengetreten, die ihren Sitz in Paris hat.

Die Gesamtzahl der J. auf der ganzen Erde wird auf 7 1/2 Mill. veranschlagt. Nach den neuesten Zählungen und Schätzungen kommen auf Europa: Russisches Reich 3236000 (davon auf Polen 815433), auf Österreich (1890) 1141615, Ungarn (1890) 725222, Deutsches Reich (1890) 567884 (davon auf Preußen 372059), europ. Türkei 94600, Niederlande (1889) 97274, Großbritannien und Irland (1881) 50000, Frankreich 50000, Italien 38000, Schweiz (1888) 8384, Belgien 3000, Dänemark (1890) 3946, Schweden (1890) 2993, Norwegen (1891) 34, Spanien 6900, Griechenland 5800, Rumänien 400000, Serbien 3492, Bulgarien 24352, Bosnien 6000, Portugal 300, Luxemburg (1890) 1009; Asien: Afghanistan 1400, Britisch-Indien 1000, Palästina 50000, überhaupt etwa 294000; Afrika: Abessinien und Marokko je 200000, Ägypten 8000, Algerien 48500, Tunis 45000, überhaupt etwa 507500; Amerika: Vereinigte Staaten 230000, überhaupt etwa 300000; Australien 16000. Das "Annuaire des archives israélites" für 1892 giebt als Gesamtzahl 6337000 an, darunter für Europa 5415000, Asien 310000, Afrika 350000, Amerika 250000 und Australien 12000.

Neuerdings sind interessante Untersuchungen über die Rassenfrage, die im gegenwärtigen Antisemitismus (s. d.) bekanntlich eine weit bedeutendere Rolle spielt als die der Religion, geführt worden. Vgl. darüber M. Alsberg, Die Rassenmischung im Judentum (Hamb. 1891), und J.^[oder I. - nicht eruierbar] Babad (im "Ausland", 1891, Nr. 42, 43).

Vgl. über die Geschichte und Verfassung der J. außer den Schriften des Josephus (s. d.) und den oben angeführten Monographien die Werke von Zunz, Jost, Graetz und Cassel; ferner S. Cassels Artikel "Juden" in der "Allgemeinen Encyklopädie" von Ersch und Gruber (Sekt. II, Bd. 27); A. Geiger, Das Judentum und seine Geschichte (3 Bde., Bresl. 1865-71); Saulcy, Sept siècles de l'histoire judaïque (Par. 1874); R. Andree, Zur Volkskunde der J. (Bielef. 1881); Hecht, Handbuch der israel. Geschichte (5. Aufl., bearb. von Kayserling, Lpz. 1884); F. Bosse, Die Verbreitung der J. im Deutschen Reiche (Berl. 1885); Zeitschrift für Geschichte