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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Judentum

immer völliger zur Herrschaft zu bringen und damit den Eintritt des Gottesreichs zu ermöglichen, in dem Israel herrschen und die Güter der Welt genießen wird. Erreicht soll es werden durch peinlich genaue Regelung aller Erweisungen der Frömmigkeit (Zaun um das Gesetz). Die Predigt Jesu, die die Vorstellungen vom Reiche Gottes ins Geistige und Ethische umbildet und an die Stelle der Kleinigkeiten der Pharisäer das königl. Gesetz der Liebe setzt, vermag das jüd. Volk nicht zu gewinnen. Die Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) beraubte das jüd. Volk des religiösen Mittelpunktes und des Kultes. Damit gewannen die pharisäischen Rabbinen die Herrschaft über den Geist des Volks. Sie bilden das J. zu einer im Sinne der alten Zeit kultlosen Gemeinschaft um, deren Glaube und Volkstum durch peinlich genaue Befolgung des mosaischen Gesetzes in rabbinischer Deutung gewährleistet wird. Die hellenistische Judenheit findet teils den Weg in die christl. Kirche, teils wird sie von den pharisäischen Rabbinen palästinisiert; den Niederschlag dieser geistigen Bewegung aber bildet der Talmud. Es vollzog sich dieselbe in der Zeit vom Beginn der Ptolemäischen Herrschaft, 4. Jahrh. v. Chr. bis ungefähr 500 n. Chr. Das Resultat war die Preisgebung der damaligen Weltbildung, um die Selbständigkeit der Religion und der Nation zu retten. Die Grundlage, die das J. im Laufe dieser Zeit durch den Talmud erhielt, hat sich ungeachtet des Widerspruchs der Karäer (s. d.) und anderer bald wieder verschwundener Sekten bei der großen Mehrheit der Juden behauptet und im 6. bis 10. Jahrh. von Palästina und Babylonien, später von Italien und Syrien aus sich über alle von Juden bewohnte Länder, soweit Nachrichten vorhanden sind, verbreitet.

In der dritten Periode, vom 10. bis 16. Jahrh., drohte eine ähnliche Krise von seiten der den Juden durch die arab.-maur. Kultur übermittelten Philosophie, die man mit der nationalen Religion zu versöhnen suchte. Die Altgläubigen setzten diesen Versuchen, neben Bibel und Talmud noch eine andere Quelle der Wahrheit zuzulassen, heftigen Widerspruch entgegen, der sich besonders gegen das klassischeWerk der philos. Richtung, den More nebuchim des Maimonides richtete. Diese Kämpfe wurden besonders in Spanien und Südfrankreich ausgefochten. Daneben entwickelte sich gegenüber den christl. Bekehrungsversuchen und Angriffen eine Litteratur der Apologetik und Polemik und die durch die jurist. Haarspaltereien der Talmudisten und die theologischen der Religionsphilosophen unbefriedigten Gemüter warfen sich der mystischen Kabbala (s. d.), der angeblichen Geheimlehre göttlicher Offenbarung, in die Arme.

In der vierten Periode, vom 16. bis gegen Ende des 18. Jahrh., verlegt sich der Schwerpunkt des J. in die mittlern und östl. Länder Europas; der Westen dieses Erdteils war durch grausame Verfolgungen von Juden fast entvölkert und die zahlreichen Keime höherer Entwicklungen waren vernichtet. Vom bürgerlichen Leben, vom Handwerk, vom Landbau, von öffentlichen Ämtern, vom regelmäßigen Gewerbebetrieb ausgeschlossen, auf Kleinhandel und Geldgeschäfte angewiesen, sah sich das J. zu immer schrofferer Selbstbehauptung genötigt, bereit, zur Rettung der Religion und Nationalität jedes Opfer zu bringen. Wissenschaftliche Bearbeitungen der Religion traten unter dem Druck der Zeiten in den Hintergrund; nur die nationale Litteratur, Talmud und Hagadah, ward mit Zähigkeit festgehalten.

Die mit der sog. Aufklärungsperiode beginnende Entwicklung des modernen J. ward durch Moses Mendelssohn eingeleitet, der, wie er selbst mit den christlichen litterar. Größen Deutschlands den freundschaftlichsten Verkehr pflegte, so auch das J. von der veralteten Sitte loszureißen und einer freiern humanen Bildung entgegenzuführen sich bemühte. Freilich ging es auch diesmal nicht ohne innere Kämpfe ab, die bis auf den heutigen Tag noch nicht geschlichtet sind. Heftig widerstrebte die orthodoxe Richtung den Änderungen des Gottesdienstes und der alten Sitten, wenn auch die strengste Aufrechthaltung der letztern innerhalb der Kulturnationen Europas sich als eine Unmöglichkeit erwies. Der eifrigste Verteidiger der orthodoxen Richtung, S. R. Hirsch (gest. 1888), sah sich genötigt, die veralteten Formen durch Allegorisierung für die veränderte Zeitbildung genießbar zu machen (vgl. Dalman in der Zeitschrift "Nathanael", Berl. 1891, I, S. 25-32). Eine wissenschaftliche Vertretung hat diese Richtung in dem "Rabbiner-Seminar für das orthodoxe J." in Berlin seit 1873 gefunden. Ihr gehören an Israel Hildesheimer, A. Berliner u. a. Ihr wissenschaftliches Organ ist das "Magazin für die Wissenschaft des J. (bis 1892 19 Jahrgänge). Die Reformpartei ging anfangs in ihren Vertretern Holdheim in Berlin, L. Philippson in Magdeburg u. a. etwas radikal vor. Ihr wissenschaftlich bedeutendster Vertreter war A. Geiger (s. d.). Das Wiederaufleben jüd. Wissenschaft, eingeleitet durch die Arbeiten von S. J.^[Salomo Juda] Rapoport (gest. 1867) und L. Zunz (gest. 1886), L. Löw (gest. 1875) u. a., mahnte dazu, die eigentümlichen Schätze jüd. Vergangenheit nicht leichthin über Bord zu werfen. Eine vermittelnde reformistische Richtung entstand und fand ihre Vertretung vorzugsweise im Breslauer Rabbiner-Seminar (Fränkelsches Stift) durch Männer wie Z. Frankel, H. Graetz, J.^[Jacob] Bernays, D. Rosin u. s. w., sowie in der Landes-Rabbinerschule zu Budapest, wo W. Bacher, D. Kaufmann und der hervorragende Arabist I.^[Ignaz] Goldziher wirken. Ihr litterar. Organ ist die "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des J." (37 Jahrgänge; Breslau). Die Geigersche Richtung ist in der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des J. vertreten. - Eine allgemein für alle jüd. Gemeinden entscheidende Instanz, die über diese Richtungen das letzte Wort zu sprechen hätte, giebt es innerhalb des J. nicht. Auch die Rabbinerversammlungen von 1844, 1868, 1884 u. s. w. haben eine solche nicht sein wollen. Das J. ist dem Gesetz der freien geschichtlichen Entwicklung überlassen. Äußern Zwang gegen seine Anhänger kennt es nicht. Große Massen bröckeln infolgedessen ab. Ob es noch einmal die Macht entwickeln wird, wie zur Zeit des Talmuds durch freiwillig übernommenen Zwang seine Glieder zusammenzuhalten, muß die Zukunft zeigen. (S. auch Juden und Jüdische Litteratur.)

Die Glaubenssätze des J. sind behandelt worden in neuester Zeit von Stein (3 Tle., Mannh. 1876 fg.) u. a. Außerdem vgl. A. Geiger, Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des J. (hg. von seinem Sohne Ludw. Geiger, Berl. 1875); Wahrmund, Babyloniertum, J. und Christentum (Lpz. 1882); Hirsch, Über die Beziehung des Talmuds zum J. (Frankf. a. M. 1884); Wahrmund, Das Gesetz des Nomadentums (Berl. 1887); Leroy-Beaulieu, Les juifs et l'antisémitisme (in der "Revue des Deux