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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Marseille

Kaiserreichs wie während der Restauration als eine revolutionäre Demonstration, und erst mit der Julirevolution erlebte sie ihre Auferstehung. Die Melodie der M. wurde früher allgemein Rouget de Lisle zugeschrieben; andere nannten als Komponisten einen Chevalier d'Huna, den Violinvirtuosen Al. Boucher, J. F. Reichardt, einen unbekannten Kapellmeister Holtzmann u. s. w. Jetzt ist nachgewiesen, daß Rouget de Lisle den Text seiner Hymne zum Teil mehrern Sätzen der Tragödien "Esther" und "Athalie" von Racine entnahm, während er die Melodie notengetreu von einer Nummer des Oratoriums "Esther" von Jean Baptiste Lucien Grison abgeschrieben hat. - Vgl. A. Loth, Le chant de M. et son véritable auteur (Par. 1886); Reiber, Centenniaire de la M. (Straßb. 1892). - Die sog. Arbeitermarseillaise ("Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet"), ein Lieblingslied der deutschen Socialdemokraten, wurde von Jakob Audorf nach der Melodie der französischen M. gedichtet.

Marseille (spr.-ßäj). 1) Arrondissement im franz. Depart. Bouches-du-Rhône, hat 649,94 qkm, (1891) 445 784 E. mit 18 Gemeinden und 11 Kantonen. - 2) Hauptstadt des Depart. Bouches-du-Rhône, Frankreichs erste sowie nach London, Liverpol und Hamburg die bedeutendste Seehandelsstadt Europas, liegt in 43° 17' nördl. Br. und 5° 23' östl. L. von Greenwich, zwischen den Rhônemündungen und Toulon, am Fuße der felsigen Ausläufer der provençal. Alpen und an einer östl. Bucht des Golfe du Lion. M. hat (1891) 305 523, als Gemeinde 403 749 (1896: 447 344) E., darunter etwa 80 000 Italiener. Die Jahrestemperatur beträgt 14,3°, die des Januars 6,4°, die des Julis 22,1° C., die Regenmenge 514 mm. Der häufige scharfe Nordwestwind bringt schroffe Temperaturwechsel. (Hierzu ein Stadtplan.)

^[Abb.]

Anlage und Bauten. M. besteht aus der Alt- und der Neustadt, welche beide durch die Rue Cannebière, den Cours Belzunce, die Rue d'Air und den Boulevard des Dames geschieden sind. Mit der Rue de Rome bilden der Cours Belzunce und die Rue d'Air eine schnurgerade Straße, die teilweise mit Alleen besetzt ist. Durchkreuzt wird der Cours durch die von Osten nach Westen znm alten Hafen ziehende prächtige Rue Cannebière und Rue Noailles und deren östl. Fortsetzung (Alée de Meilhan und Boulevard de la Madeleine), die belebteste Straße. Die Altstadt, der größere und volkreichere Teil, zieht sich hufeisenförmig auf höherm Terrain zu dem alten Hafen hinab und hat enge, steile und winklige Gassen und unansehnliche Häuser; sie ist der Sitz des Gewerbfleißes wie der Not und des Lasters; die Hafenarbeiter, darunter viele Italiener, überhaupt die ärmern Leute wohnen hier. Im Norden dieser Altstadt liegt der Stadtteil Ville maritime, den die Rue de la République mit dem alten Hafen verbindet. Die Neustadt, östlich und südlich vom Cours Belzunce, hat schöne Straßen, zum Teil palastähnliche Häuser und Hotels. Zahlreiche frühere Vororte sind jetzt Stadtteile. Im ganzen trägt M., obgleich uralt, einen durchweg modernen Charakter.

Unter den Kirchen sind zu nennen: die 1852 begonnene, 1893 eingeweihte Kathedrale am Quai de la Joliette, eine Basilika im roman.-byzant. Stile, mit mehrern Kuppeln und reich ausgestattetem Innern; die alte berühmte Kapelle Notre-Dame de la Garde, 1214 auf der nach ihr benannten Felsenhöhe (146 m) im Süden des alten Hafens erbaut, ist durch eine große Kirche im roman.-byzant. Stile ersetzt, im Innern, das ein Brand (1884) teilweise zerstört hat, mit Marmorsäulen und Wandgemälden, auf dem Turme mit einer Marienstatue geschmückt. Ein Ascenseur führt zur Felsenhöhe hinauf. Auf dem großen Platz zwischen Rue Barbaroux und Cours de Villiers steht die Kirche St. Vincent de Paul im got. Stil mit neuer Façade. Die St. Michaeliskirche, ein schöner got. Bau, faßt 4000 Menschen. Andere Kirchen sind: Notre-Dame du Mont-Carmel, die deutsch-evang. Kirche, die griech. Kapelle, die Synagoge, die franz.-evang. Kirche und die uralte Kirche St. Victor. - Zu den bedeutendsten öffentlichen Gebäuden gehören: das Rathaus am Quai mit Bildsäulen und Karyatiden von Puget, der 1858-62 erbaute großartige Justizpalast an der Rue Breteuil, die 1854-60 von der Handelskammer aufgeführte Börse in Form eines griech. Tempels mit schönen Reliefs, die Präfektur an der Rue de Rome im Renaissancestil, der erzbischöfl. Palast, das Hôtel Dieu, das Gesundheitsamt (Consigne) und der Triumphbogen an der Rue d'Air (1825-30). Das prächtigste Bauwerk ist das Château d'Eau (Palais de Longchamp) in der östl. Vorstadt, mit dem naturhistor. Museum und einer Bildergalerie in den Seitenflügeln. Der Mittelbau enthält Kaskaden; dahinter liegt der zoolog. Garten. Unter den Plätzen zeichnen sich aus der Börsenplatz, der St. Michaels-, der St.-Ferréolplatz und der Platz des Justizpalastes, wo die Statue Berryers steht. Ostern 1894 wurde das Kriegerdenkmal enthüllt. Unter den Promenaden ist besonders der Prado zu bemerken, welcher 4 km lang in doppelten Platanenalleen von der Place Castellane nach SO. und zum Meere führt, und der Chemin de la Corniche am Ufer. Die Wasserleitung liefert von der Durance her (382 m langer Aquädukt bei Roquefavour im Arcthal) 9000 l in der Sekunde. Von der im Okt. 1891 begonnenen Kanalisierung wird eine Besserung der Gesundheitsverhältnisse erhofft. In der Umgebung zahlreiche kleine Landhäuser, Bastides oder Cabanons.

M. ist Sitz des Präfekten, eines Bischofs, des Kommandos des 15. Armeekorps, der 58. Infanterie- und der 15. Kavalleriebrigade, eines Gerichtshofs erster Instanz, Handelsgerichts, einer Handelskammer, eines Gewerbegerichts und eines Hauptzollamtes. In Garnison befindet sich ein Teil des 61., das 141. Infanterie-, das 9. Husarenregiment und die 15. Gendarmerielegion.

Unterrichts- und Bildungswesen. An der Spitze der Bildungsanstalten steht die zur Akademie von Air gehörige Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät (28 Docenten), die Medizinisch-Pharmaceutische Schule (26 Docenten) und die Freie jurist. Fakultät. Ferner bestehen eine höhere Handelsschule, Kunstschule, Konservatorium für Musik, großes und kleines Priesterseminar, Landwirtschaftliche Lehranstalt, Schiffsjungenschule, Anstalten für Taubstumme, Blinde, eine École Belzunce, eine Sternwarte und ein botan. Garten. Die Bibliothek zählt 86 000 Bände und 1300 Handschriften. Das Antiquitätenmuseum im Schloß Borély enthält wertvolle phönizische und röm. Altertümer; im Museum sind Bronzen, Gemälde (namentlich von ital. und holländ. Meistern) und Skulpturen sowie natur-^[folgende Seite]