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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Minnesang

sen, der einflußreichste Förderer der neuen höfischen Salon- und Reflexionslyrik, und Graf Rudolf von Neuenburg in der Schweiz, dessen Lieder zum großen Teil nur Übersetzungen aus dem Provençalischen sind. Der Einfluß der roman. Lyrik brachte einen Umschwung nach Form und Inhalt. Die Lieder werden mehrstrophig, die Strophen dreiteilig und mit der Zeit immer künstlicher, die Verse mit peinlicher Sorgfalt gebaut, klingender und stumpfer Reim genau unterschieden, die Reimverschlingung und Reimhäufung immer höher gesteigert; in den Daktylen und den fünftaktigen Versen wird die romanische zehnsilbige Langweile kopiert. In jedem Ton wird nur ein Lied verfaßt; der Dichter, der zugleich stets Komponist war und eine gewisse musikalische Schulung nicht entbehren konnte, hat ein Eigentumsrecht an seinem Ton; wer es verletzt, wird als "Tönedieb" gebrandmarkt. Neben den Liedern, die in jeder Strophe dieselbe Melodie haben, kommen die umfänglichen durchkomponierten Reimgebäude des Leichs (s. d.) in Gebrauch, die größtenteils auf einer kirchlichen Form, den Sequenzen, beruhen, sich aber zuweilen auch an volkstümliche Reigen anlehnen. Noch einschneidender ist die Veränderung gegen die frühere Lyrik im Inhalt; das nahezu alleinherrschende Thema wird der höfische Minnedienst, ein unwahres, erkünsteltes Verhältnis, das den Ritter nötigt, sehnsüchtig klagend nach der Gunst einer verheirateten Frau zu begehren, frei nach dem Musterbeispiel der romantischen Liebe zwischen Tristan und Isolde. Verboten ist im rechten M. Freude über erhörte Liebe als indiskret, ebenso jeder Ausbruch heißer Leidenschaft, die in eine Gesellschaft nicht paßt, deren Ideal die "mâze" (das Maßhalten) ist; die echte Empfindung macht einer tifteligen Liebesreflexion Platz. Auch für die Natur hat der höfische Sänger keinen Blick; nur dem Lobe Gottes und der heiligen Jungfrau wird neben dem Lobe der Frau ein Platz gewährt. Der M. ist jetzt eine Standespoesie, die hauptsächlich dem Adel ziemt: scheint doch sogar Kaiser Heinrich VI. Minnelieder gedichtet zu haben.

Schnell siegte die neue, modische Richtung. Der geniale Thüringer Heinrich von Morungen weiß trotz aller konventionellen Beschränkung seinem warmen Temperament, seiner kräftigen Bildlichkeit in ihr Luft zu machen. Dagegen ist Reinmar der Alte oder von Hagenau, der den höfischen M. aus seiner elsäss. Heimat nach Wien trug und dort der bewunderte Modedichter des Tages wurde, der Typus dieser blut- und farblosen, raffiniert eleganten, weinerlich tiftelnden Gedankendichtung. Doch der Rückschlag blieb nicht aus; schon Hartmann von Aue spricht von den ewig klagenden Minnesingern spöttisch, und es war das große Verdienst Walthers (s. d.) von der Vogelweide, daß er die Lyrik wieder aus den Banden erstarrter Konvention befreite. Er, ein Adliger, der sich doch als fahrender Sänger sein Brot verdienen mußte, setzte sich auch über das Vorurteil hinweg, daß nur der M. dem Ritter gezieme, und dichtete im Dienste des Kaisers gegen den Papst seine gewaltigen, mächtig zündenden polit. Sprüche. Zugleich pries Wolfram von Eschenbach, der Meister des Tageliedes (s. d.), das Glück der Ehe. Die gesunde Empfindung schlug die gesellschaftliche Mode.

Unter den Epigonen der mittelhochdeutschen Dichtung seit 1220 blühte der M. am reichsten in Schwaben und der Schweiz. Ein vornehmer Kreis am Hofe Heinrichs VII. pflegte zwar auch die reflektierte und kühl inhaltlose aristokratische Grübelpoesie Reinmars des Alten, übte daneben aber in andern Dichtungen eine volkstümliche Tanz- und Naturdichtung: so der originelle und geniale Burkard von Hohenfels, der formglänzende Ulrich von Winterstetten und Gottfried von Neifen, dessen Balladen zum Teil ohne weiteres als derbe Volkslieder gelten könnten. Schüler Walthers und Reinmars waren die Schweizer Schenken Ulrich von Singenberg und Konrad von Landeck, der Tiroler Rubin und der Steiermärker Ulrich von Liechtenstein, dessen Lieder seine übrigen Dichtungen weit überragen. Ein durch Morungen angeregter Kreis von Thüringer Dichtern, Christian von Hamle, Heinrich Hetzbold von Weißensee, Christ, von Lupin u. a., zeigt eine fast antike sinnliche Lebensfreude bei meisterhafter Technik. Den Höhepunkt der Technik aber bezeichnen doch die Lieder Konrads von Würzburg, der als Minnesinger durchaus zu den Schweizern zu stellen ist. Bei aller Einförmigkeit des Themas, in das fast niemand durch Einflechten persönlicher Erlebnisse Abwechselung gebracht hat, weist der spätere M. selbst in seinen rein höfischen Richtungen eine überraschende Fülle stilistischer, technischer und inhaltlicher Nuancen auf.

Hatte aber Walther von der Vogelweide Kunst- und Volkslyrik zu höherer Einheit mit glänzendem Gelingen zusammengefaßt, so erstand in seinen spätern Jahren in Österreich eine neue Richtung, die er als Ruin höfischen Gesanges bedauerte. Die höfische Dorfpoesie Neidharts und seiner zahlreichen Nachahmer führt uns in die Kreise der hübschen lebenslustigen Bauerndirnen und ihrer tölpischen Liebhaber: die ironische Manier, die Cynismen und komischen Derbheiten, die Neidhart noch mit künstlerischem Takte übt, sinken in seiner Schule mehr und mehr zur rohen Zweideutigkeit herab. Ein schweiz. Dichter aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrh., Herr Steinmar, ist Neidhart in manchem ähnlich; er liefert realistische Parodien des höfischen M. und führt die Herbstlieder ein, volkstümliche Lieder auf Saufen und Fressen. Darin folgte ihm der Züricher Hadlaub, der sonst durch sentimental detailreiche und lebenswahre Schilderungen einer hoffnungslosen Liebe lächelndes Mitleid erweckt. In den Bahnen der halbgelehrten Vagantenpoesie schritt der Tannhäuser, dessen ausgelassene Tanzleiche mit ihrem abenteuerlichen Wissenskram zu den amüsantesten Erzeugnissen des M. gehören. Seit dem 14. Jahrh. sinkt der M. vom Adel ins Volk herab; das Volkslied des 15. Jahrh. dankt eine Reihe seiner wirkungsvollsten Züge der Nachwirkung des höfischen M.

Die Spruchdichtung, die Walther in sein Repertoire aufgenommen hatte, fand nach ihm nur noch einen adligen Vertreter, Walthers Schüler Reinmar von Zweter. Bei ihm wird aber die polit. Dichtung bereits weit überwogen von lehrhaften und unterhaltenden Sprüchen aller Art. Außer Walther und Reinmar waren die mittelhochdeutschen Spruchdichter alle arme Fahrende, die sich lehr ungeniert durch Betteln, Loben und Schelten ihren Unterhalt an den Höfen erwarben: der geistvolle Bruder Wernher, ein Österreicher, jüngerer Zeitgenosse Walthers, ist ein Virtuose des Scheltens. Die natürliche Entwicklung der Spruchdichtung wird beeinträchtigt durch das Eindringen gelehrter Elemente, die zuerst in Süddeutschland auftauchen. Die mit einem Anflug scholastischer Bildung versehenen "Meister", wie der Schwabe Marner, der Tiroler Sunburg, später