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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Nordische Mythologie

skandinav. Schweden faßte dieser Gott bald Fuß. In dem Mythus vom Kampfe der Vanen mit den Asen lebt der Kampf zwischen dem alten und neuen Kulte fort. Von Südschweden drang dann die Verehrung Odins nach Norwegen. Allein Odin ist viel mehr der Gott der Könige, Krieger und Dichter gewesen als der des gemeinen Mannes; dieser hielt am alten Thorglauben fest. Durch die nord. Skalden (s. d.) trat dann in der Wikingerzeit (seit dem Ausgange des 8. Jahrh.) Odin in den Mittelpunkt der mytholog. Dichtung und der Verehrung an den Königshöfen; volkstümliche Mythen wurden an seine Person geknüpft, sämtliche andere Götter treten mehr oder weniger in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, indem sie seine Söhne werden. So entsteht durch die Dichter ein ausgeprägtes mythisches System. Ins Volk ist dasselbe weniger gedrungen; hier lebte Odin hauptsächlich nur als alter Windgott. Dieses System hat im 13. Jahrh. durch Snorri Sturluson eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten. Nach diesem ist Odin Gott des Himmels, des Krieges, der Dichtkunst, der allgewaltige Herrscher über alles. Als Gott über das Totenreich Valhöll ist er der Herr der Einherjer und der Walkyren. Seine Gemahlin ist Frigg. Von Mimir holt er sich sein Wissen. Ihm zur Seite steht sein mächtiger Sohn, der Donnergott Thor, der auch in seiner Unterordnung seine alte Gewalt noch deutlich erkennen läßt. Auch die übrigen Gottheiten sind fast durchweg seine Söhne: Týr, der zum untergeordneten Kampfgott herabgesunkene alte Himmelsgott, Heimdall und Baldr, Hypostasen des alten Himmelsgottes, Bragi, ein späterer Gott der Dichtkunst, Vidar und Vali, die einst nach dem Weltuntergange in der neuen Welt regieren werden. Einst der Blutsbruder Odins, tritt der böse Loki, das vernichtende Element, den Göttern feindlich gegenüber und bewirkt ihren Untergang. Daneben erscheinen noch in der Odinschen Götterwelt der dunkle Hoenir, der blinde Hödr, der Mörder Baldrs, Ullr, der alte winterliche Himmelsgott, Forseti, der Sohn Baldrs. Sie vereint bilden die Asen, im Gegensatz zu den lichten Vanen, deren Hauptvertreter Freyr und seine Schwester Freyja, sowie ihr Vater, der Meergott Njördr sind. Unter den Göttinnen steht Frigg obenan. Aus ihr mag in Anlehnung an Freyr die Freyja entstanden sein. Andere sind nur dichterische Personifikationen abstrakter Begriffe; so Saga, die Göttin geschichtlicher Kenntnisse, Eir, die Göttin der Arzneikunde, Sjöfn, die Göttin der Liebe, Lofn, die des Gelübdes, Vör, die des Eides, Syn, die der Gerichtsverhandlung, Snotra, die der Weisheit. Als Dienerin der Frigg erscheinen Fulla und Gna.

Ausgebildet war in diesem jungen mytholog. System auch die Kosmogonie und Eschatologie, doch stehen beide sicher schon teilweise unter christl. Einflusse. Im Uranfange war nichts als ein gähnender Schlund (Ginnungagap), darin entstanden Niflheim und Muspelheim. Aus dem Brunnen Hvergelmir in Niflheim strömten die Elivagar; das Eis, das sie mit sich führten, vereinigte sich mit belebenden Funken aus Muspelheim und so entstand das erste lebende Wesen, der Urriese Ymir, dessen Glieder untereinander Kinder zeugten. Aus dem Ureise entstand auch die Kuh Audhumla, die nach drei Tagen aus dem salzigen Schnee, von dem sie lebte, ein Wesen, Namens Buri, herausleckte, den Vater des Bör, der mit einer Riesin den Odin, den Vili und den Ve erzeugte. Diese drei erschlugen den Ymir, in dessen Blute alle Riesen bis auf ein einziges Paar ertranken, welches jenes Geschlecht fortpflanzte. Aus Ymirs Gliedmaßen bildeten Odin, Vili, Ve die Welt: aus dem Fleische die Erde, aus den Knochen die Felsen, aus dem Blute das Meer, aus dem Schädel den Himmel, aus dem Gehirn die Wolken, aus den Haaren die Bäume. Funken aus Muspelheim wurden als Gestirne gefestigt und vier Zwerge zu Hütern der vier Himmelsgegenden bestellt. Als Träger der Welt ragte eine ungeheure dreiwurzelige Esche, skaldisch die Esche Yggdrasils benannt, durch die drei Teile der scheibenförmigen Erde, um die sich das Meer als riesenhafte Schlange, Midgardsschlange, legte, in welchem der Meerriese Ägir mit seiner Gemahlin Ran und seinen neun Töchtern hauste. Die Brücke Bifröst, der Regenbogen, führte von der Erde nach dem Himmel. Die dem Riesengeschlecht entsprossene Nacht ereilt auf ihrem Rosse Hrimfaxi (Reifmähne) das Himmelsgewölbe; ihr folgt ihr Sohn Tag auf dem Rosse Skinfaxi (Leuchtmähne). Aus zwei Bäumen, einer Esche und Ulme, bildeten Odin, Vili und Ve das erste Menschenpaar, Ask und Embla. Die Götter wohnten in Asgard und Vanaheim, jeder hatte seinen besondern Sitz, die Riesen in Jötunheim oder Utgard, die Menschen in Midgard oder Mannaheim. Mit der Tötung Ymirs gelangten die Asen zur Herrschaft. Wie sie aber einst die Riesen gestürzt hatten, so sollten sie wieder von diesen gestürzt werden, das mythische Bild des regelmäßig wechselnden Sommers und Winters.

Zur Ausführung der Idee vom Untergange der Asen erhielten Baldr und Loki die Hauptrollen. In dem Leben Baldrs hatten die Götter die Bürgschaft ihres eigenen Seins. Darum strebt Loki, der alles beendigende Gott, danach, den Baldr töten zu lassen. Dies gelingt durch den blinden Hödr; auch der Versuch der Götter, Baldr von Hel zu erlösen, mißlingt. Loki wird zwar gefesselt, aber das kann den Untergang nicht aufhalten, der nach Lockerung der natürlichen und sittlichen Gesetze anbricht. Nach einem dreijährigen Winter beginnt das Ragnarök, das Göttergeschick: die Weltschlange (das Meer) bäumt auf, Loki und der Höllenwolf Fenrir, der Höllenhund Garm und sämtliche Riesen fahren, frei geworden, auf dem Schiffe Naglfar heran; aus der Feuerwelt kommt Surt mit den Muspelsöhnen; die Wölfe Hati und Sköll erreichen in der Verfolgung die Sonne. Heimdall stößt in sein Horn (Giallarhorn) und ruft die Götter auf die Walstatt. Der Vernichtungskampf beginnt. Thor und die Weltschlange, Týr und Garm fallen im gegenseitigen Kampfe; Odin erliegt dem Fenrir, wird aber von seinem Sohne Vidar gerächt, Frey wird von Surt getötet, der hierauf mit seinem lohenden Schwerte, auf dessen Spitze er die Sonne trägt, die Welt entzündet. Da stürzen die Gestirne vom Himmel und die Erde sinkt in das Meer, dessen Fluten endlich die Flammen löschen. Darauf erhebt sich eine neue Erde mit jungen Göttern. Baldr kehrt zurück, auch Hödr, Hoenir, Vidar, Vali kommen wieder; für Thor erscheinen dessen zwei Söhne Modi und Magni. Das neue Menschengeschlecht beginnt mit Lif und Lifthrasir.

Der Glaube an das Fortleben der Seele zeigte sich schon im Seelenkult. Daneben kennen die Nordländer noch einen Aufenthalt der Seele im Reiche der Hel, der offenbar mit jenem zusammenhängt.