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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Ravenna

ersten Jahrhunderten n. Chr., ein erzbischöfl. Seminar, ein großartiges Kollegium, eine technische Schule, ein Theater, Krankenhaus, Waisenhäuser, eine Accademia delle Belle Arti mit Gemäldesammlung und mehrern Sälen mit Gipsabgüssen antiker Werke und städtische Sammlungen im ehemaligen Kamaldulenserkloster Classe, enthaltend die Biblioteca comunale Classense mit etwa 70000 Bänden und 700 Handschriften, darunter die berühmte des Aristophanes (10. Jahrh.), Briefe Ciceros (15. Jahrh.), eine Handschrift des Dante (1369), das Gebetbuch Maria Stuarts, endlich das Museo Bizantino (Skulpturen, Inschriften, Architekturfragmente). Die Bevölkerung treibt Wein- und Seidenbau, Seidenspinnerei und Seidenweberei sowie Fabrikation von Musikinstrumenten, Glas, Seife und Stärke. Im Mai wird eine große Messe abgehalten. Die einst so große und blühende Stadt ist jetzt ziemlich verödet. Besonders hatte sich die altchristl. Kunst des 5. bis 8. Jahrh. hier frei entfaltet, und für die Verknüpfung der weström. Kunst mit der oströmischen bildet R. den klassischen Boden. Besonders merkwürdig ist hier die selbständige Entwicklung des Basilikenstils und der Mosaikenschmuck. Der Dom, San Orso oder Basilica Orsiana, an Stelle eines alten, vom heiligen Bischof Ursus (gest. 396) gegründeten Baues im 18. Jahrh. neu aufgeführt, ist dreischiffig mit Querschiff, einer Kuppel über der Vierung und altem Campanile. Neben dem Dom das Baptisterium der Orthodoxen, San Giovanni in Fonte, ein achteckiger Bau mit Kuppel; die Mosaiken der Kuppel (5. Jahrh.) sind die ältesten R.s. Auch befindet sich daselbst ein Altar altchristl. Stils (s. Tafel: Altäre I, Fig. 2). Die Kapelle im erzbischöfl. Palast stammt aus dem 5. Jahrh. und enthält Fresken von 547. Ferner sind zu nennen: Sta. Agata (5. Jahrh.), dreischiffig mit innerer Vorhalle; San Giovanni Evangelista, 424 durch die Kaiserin Galla Placidia errichtet; San Giovanni Battista, 438 errichtet, 1683 fast ganz umgeändert. Die Grabkapelle der Galla Placidia, jetzt San Nazario e Celso, ist 440 gegründet, hat die Form eines lat. Kreuzes (12,38 m lang, 9,82 m breit), eine Kuppel und im Innern Mosaiken (5. Jahrh.). San Francesco, einst San Pietro, soll vom heil. Petrus Chrysologus um 427-430 gegründet worden sein, ist aber bis auf die Apsis ganz modern. Die Basilika Sant’ Apollinare Nuovo wurde 500 von Theodorich d. Gr. als arianische Kathedrale St. Martinus in Coelo aureo erbaut, 570 durch Erzbischof Sant’ Agnello dem kath. Kultus übergeben und seit dem 9. Jahrh. nach Überführung der Reliquien des Heiligen aus Classe hierher so genannt; das Mittelschiff und die Innendekoration sind alt, Vorhalle und Apsis später umgebaut. Santo Spirito, auch Teodoro, von Theodorich für die arianischen Bischöfe erbaut, ist eine dreischiffige, flachgedeckte Basilika mit Vorhalle (Portal, 16. Jahrh.); daneben das Baptisterium der Arianer, Sta. Maria in Cosmedin; das Grabmal Theodorichs d. Gr. vor der Porta Serrata di Rotonda, von den Katholiken später Sta. Maria della Rotonda genannt, um 530 von Theodorichs Tochter Amalasuntha erbaut (s. Tafel: Altchristliche Kunst II, Fig. 1), endlich die Überreste von Theodorichs Palast. Aus der oström. Periode stammen San Vitale, auf der Stelle, wo der heil. Vitalis die Marter litt, 526 begonnen und 547 geweiht, war ursprünglich wohl die Hofkirche, das Vorbild, nach dem Karl d. Gr. das Münster in Aachen erbaute; es ist ein regelmäßiges Achteck mit vortrefflichen Mosaiken (s. Taf. II, Fig. 2, 3 u. 7). Endlich Sant’ Apollinare in Classe, 5 km südöstlich von Porta Nuova, der einzige Überrest der Hafenstadt Classis, 534 begonnen, 549 geweiht und 1779 hergestellt, die größte der Basiliken von R., mit westl. Vorhalle und rundem Campanile. Das Grabmal Dantes, der zu R. starb, neben der Kirche San Francesco, ist 1482 errichtet, 1692 und 1780 erneuert; die Gebeine sind 1865 daselbst wieder aufgefunden und in dem bis dahin leeren Sarkophag beigesetzt worden.

Geschichte. R., eine der ältesten Städte Italiens, ist vermutlich von den Etruskern gegründet, kam später in die Hände der Gallier und dann der Römer. Augustus legte den Hafen Portus Classis an, leitete einen Kanal vom Po durch und um die Stadt und machte R. zum Standort der adriatischen Flotte. Später versandete der Hafen und die Flottenstation ging ein, aber R. blieb Hauptstadt der Provinz Flaminia, ward Bischofssitz (angeblich 41), da der heil. Apollinaris, Schüler des Petrus, hierher kam. Die eigentliche Blütezeit erreichte aber R. erst seitdem der Kaiser Honorius 404 die Residenz von Rom nach der durch ihre Sümpfe, Kanäle und Befestigungen gesicherten Stadt verlegt hatte; sie wurde mit Prachtbauten geschmückt und Kanäle führten Seeschiffe bis in die Mitte der Stadt. Auch Odoaker (seit 476) und Theodorich d. Gr. (seit 493) residierten hier sowie nach dem Untergange des Ostgotenreichs (539) die byzant. Statthalter (Exarchen). Letztere wurden 752 von dem Langobarden Aistulf vertrieben, diesem entriß 754 der fränk. König Pippin die Stadt nebst dem ganzen Exarchat (s. d.) wieder und schenkte es dem röm. Stuhle. Später war R., dessen Erzbischöfe schon früh auf ihre möglichste Unabhängigkeit von Rom bedacht waren, eine Hauptstütze der deutschen Kaiser, seit 1218 waren die päpstlich gesinnten Traversari, seit 1275 die Familie der Polenta Herren von R. Von 1441 bis 1508 war die Stadt in den Händen der Venetianer, denen es von Papst Julius II. und der Ligue von Cambray 1509 entrissen wurde. Seitdem blieb es bis 1797, dann wieder 1815-60 dem Papste. R. ist besonders durch die Schlacht denkwürdig, in der der franz. Feldherr Gaston de Foix 11. April 1512 über die span. und päpstl. Truppen siegte und fiel.

Vgl. Rubeus, Historiarum Ravennatium libri X (Vened. 1572 u. 1590); Zirardini, Degli antichi edifizi profani di R. libri VI (Faenza 1762); Spreti, Dell’ origine e della magnificenza della città di R. (2 Bde., Rav. 1793-96); Fantuzzi, Monumenti Ravennati de’ secoli di mezzo (6 Bde., Vened. 1801-4; Ribuffi, Guido di R. con compendio storico (Rav. 1835); Quast, Die altchristl. Bauwerke zu R. vom 5. bis 9. Jahrh. (Berl. 1842); von Reumont, Dichtergräber (ebd. 1846); Ricci, R. e i suoi diutorni^[korrekt: dintorni] (Rav. 1853); Witte, Alpinisches und Transalpinisches (Berl. 1858); Hübsch, Die altchristl. Kirchen u. s. w. (Karlsr. 1863); Rahn, R., eine kunstgeschichtliche Studie (Lpz. 1869); Cardoni, R. antica (Faenza 1879); Gregorovius, Von R. bis Mentana (Bd. 4 der "Wanderjahre in Italien", 5. Aufl., Lpz. 1892); Diehl, Ravenne: études d’archéologie byzantine (Par. 1885); V. Schultze, Über die altchristl. Bildhauerkunst in R. (in den "Christl. Kunstblättern", 1889); T. Raudi, Saggio di canti popolari romagnoli (Bologna 1893); G. Pinton, Longoparti e Veneziani a R. (Rom 1893).