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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Russische Kunst

der andern, dennoch bilden sie alle zusammen ein Ganzes, das trotz seiner Eigentümlichkeit und Willkür einzig in seiner Art dasteht. In diesem phantastischen Stile zeichnet sich noch die 1628 erbaute Kirche der Grusinischen Mutter Gottes in Moskau sowie die um dieselbe Zeit errichtete Blagowjeschtschenskij-Kathedrale in Kasan aus. Daß bei den meisten Bauten ausländische, insbesondere byzant., ital. und deutsche Meister mitgewirkt haben, ist nicht zu bezweifeln; daß es aber schon in den frühesten Zeiten tüchtige einheimische Architekten gab, davon zeugt der Umstand, daß der Gesandte Ludwigs des Heiligen beim Hofe des mongol. Chan im 13. Jahrh. aus Rußland berufene Baumeister vorfand; auch betonen alte Chroniken vielfach, daß verschiedene Bauten, z. B. die in Wladimir, durch einheimische Kräfte ausgeführt wurden. Ferner zeugen von der selbständigen Kunstthätigkeit der Russen in der angedeuteten Richtung zahlreiche Miniaturen und Ornamente in Handschriften aus dem 11. und 12. Jahrh.; ferner Kirchengeräte, Kelche, Kreuze, Weihrauchbehälter u. s. w. Nur die Malerei, die in diesem zweiten Zeitraume fast ausschließlich auf Erzeugung des Kirchenschmucks und insbesondere der Heiligenbilder beschränkt war, behielt den steifen byzant. Charakter bei, und zwar deswegen, weil die traditionellen Typen der Heiligen kanonisch wurden und jede Abweichung von denselben vom 15. Jahrh. an bis heute untersagt ist. Dennoch hat sich der Schmuck der vor dem Altar aufgerichteten Wand, des sog. Ikonostas, ebenfalls in der angegebenen originellen Richtung entwickelt.

Dritter Zeitraum. Mit der Erhebung des Hauses Romanow auf den russ. Thron (1613) kommt Rußland in immer nähere Beziehung zu dem westl. Europa und tritt endlich durch Peter d. Gr. gegen Ende des 17. Jahrh. völlig in die Reihe der europ. Staaten. Der bisherige byzant. und asiat. Einfluß macht nun auf allen Gebieten der geistigen und materiellen Entwicklung dem westeuropäischen Platz. Dieser Wechsel äußert sich zunächst in der Baukunst während der letzten zwei Jahrhunderte. So verbindet die um 1680 von Peter I. in Moskau errichtete Kirche des heil. Nikolaus (genannt beim "Großen Kreuz") in fast komischer Weise die Renaissanceanlage und den äußern Rokokoschmuck mit den obligaten fünf Zwiebelkuppeln, die über dem flachen ital. Dache des hohen Baues ganz unmotiviert hervorragen. Als Rokokobau ist in Moskau aus derselben Zeit noch besonders die Kirche der Wladimirschen Mutter Gottes beim Nikolschen Thor hervorzuheben. Die Verlegung der Hauptstadt nach Petersburg (1703) hatte eine großartige monumentale Bauthätigkeit in dieser Stadt zur Folge, die über anderthalb Jahrhunderte dauerte und erst in der Vollendung der Isaakskathedrale (1858) ihren Abschluß fand. Sowohl Peter d. Gr. als seine Nachfolger, insbesondere Elisabeth, Katharina II., Alexander I. und Nikolaus I., trugen das Ihrige dazu bei, aus Petersburg eine europ. Hauptstadt in modernem Stil zu machen. Zu den hervorragendsten kirchlichen Bauten, die in diesem Zeitraume errichtet wurden, gehören: das Alexander-Newskij-Kloster (Lawra), 1713 von Tresani erbaut, und die in demselben später (1790) unter Katharina II. von Starow errichtete Dreifaltigkeitskirche, die Peter-Pauls-Kathedrale, 1714-33 erbaut, mit graziösem schlanken Turm von Schurawski, die Preobrashenskij-Kathedrale, 1742-54 von Tresin, die Kathedrale des heil. Andreas, neu erbaut 1764, die Kathedrale der Kasanschen Mutter Gottes von Woronichin (1801-11), die imposante Isaakskathedrale, von 1818 bis 1858 erbaut (s. Taf. II, Fig. 5). Unter den prächtigen Profanbauten sind besonders hervorzuheben: das Admiralitätsgebäude, 1718 nach Plänen von Peter d. Gr., später vielfach umgebaut, der kaiserl. Winterpalast, nach Plänen des Grafen Rastrelli 1754-64 erbaut und nach dem Brande von 1837 nach denselben Plänen wieder errichtet (s. Taf. II, Fig. 2), die Paläste von Zarskoje-Selo und Peterhof, das Anitschkowpalais (s. Taf. II, Fig. 3), die Palais der Grafen Woronzow und Stroganow, alle ebenfalls von Rastrelli, die Akademie der Künste, 1764 von Kokorin, die alte Eremitage, 1765 von Delamotte, das Marmorpalais, 1770-83 von demselben, das Taurische Schloß, nach dem Muster des Pantheon von Starow 1783, die Börse, von Thomon 1804-10, der Michaelpalast, von Rossi 1819-24, die neue Eremitage, 1840-52 von Klenze. Alle diese Bauten haben einen völlig westeurop. Charakter und bilden auf russ. Boden das Widerspiel der jeweiligen, im übrigen Europa herrschenden Kunstrichtungen, also der Renaissance, des Barock- und Rokokostils sowie des erneuerten Klassicismus. Erst in den letzten Jahrzehnten macht sich neben jenen Richtungen die specifisch nationale Richtung auf dem Gebiete der Kunst wieder geltend. Moskau scheint in dieser Richtung wieder die Oberhand gewinnen zu sollen. Hier hat schon Kaiser Nikolaus in seinen Kremlbauten vielfach der nationalen Tradition Rechnung getragen. In wahrhaft großartiger Weise findet aber die Rückkehr zum russ.-nationalen Stil ihren Ausdruck in der Erlöserkirche zu Moskau, 1839-83 erbaut nach den Plänen von Thon (gest. 1881) und Resanow (s. Taf. II, Fig. 4), sowie in der Gedächtniskirche bei Borki (s. Taf. II, Fig. 6).

Der westeurop. Einfluß führte in den letzten zwei Jahrhunderten auch eine rege Entwicklung der Bildnerei und Malerei in Rußland herbei. Die Bildnerei kam in dem vorhergehenden Zeitraume nicht auf infolge der byzant. Abneigung gegen die plastische Darstellung der Heiligen, während die Malerei auf das religiöse Gebiet eingeschränkt war und hier auch über den byzant. Kanon nicht hinauskam. Erst im 18. Jahrh. wurden in Rußland die ersten, dem Andenken großer Männer gewidmeten öffentlichen Denkmäler aufgestellt. Es war nicht mehr als natürlich und billig, daß zu den ersten Werken dieser Art das Denkmal des großen Reformators Rußlands, Peters I., gehörte. Noch zu Lebzeiten desselben entwarf der Bildbauer Graf Bartolomeo Rastrelli, der Vater des erwähnten Architekten, ein Modell Peters d. Gr. zu Pferde. Es wurde auch später (1747) in Bronze ausgeführt, fand aber keinen entsprechenden Platz und befriedigte wegen seiner akademischen Ruhe die Nachfolger Peters nicht. Katharina II. ließ daher durch Falconet Peter auf einem feurigen Rosse einen steilen Berg hinaufsprengend darstellen. Das Reiterstandbild ziert, 1782 in Erz gegossen, bis heute den Petersplatz an der Newa (s. Taf. I, Fig. 1). Unter den übrigen Denkmälern Rußlands seien erwähnt: das Minin- und Posharskijdenkmal in Moskau (s. Taf. I, Fig. 3), 1818 von Martos (Rektor der Kunstakademie zu Petersburg, gest. 1835); das Lomonossowdenkmal von demselben; die Monumente der Generale Kutusow und Barclay de Tolly, nach den Entwürfen von B. Orlowski 1818-36 ausgeführt und vor der Kasanschen Kathedrale in Petersburg aus-^[folgende Seite]