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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Shakespeare

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Shakespeare

dichter Rowe erwarb sich (1709) das Verdienst, zuerst wieder das größere Publikum auf S. hingewiesen zu haben, indem er ihn in einer kritisch verbesserten Ausgabe darbot. Von diesem Zeitpunkt an begann S.s Einfluß auf weitere Kreise zu steigen; eine Reihe gelehrter Männer (Pope, Theobald, Steevens, Johnson) bemühte sich, den ursprünglichen Text zu reinigen und ihn durch Kommentare zu erläutern; endlich brachte Garrick (s. d.) die hauptsächlichsten Stücke, «Hamlet», «Lear», «Macbeth» u. s. w., wieder auf die Bühne und feierte in ihnen seine höchsten Erfolge. Von dieser Zeit an wurden S.s Werke wieder ein Gemeingut der Nation; 1769 war es schon möglich, in Stratford eine Jubelfeier zu veranstalten. Auch auf den Kontinent drang die Kunde von dem großen Briten; Voltaire, der in London einigen Aufführungen S.scher Stücke beigewohnt hatte, erzählte seinen Landsleuten von den Wundern dieses «betrunkenen Genies», und in Deutschland veranlaßte von Borcks zopfige Bearbeitung des «Julius Cäsar» (1741) in Alexandrinern alsbald J. E. Schlegel zu beachtenswerter Würdigung S.s. Die Anerkennung war aber noch sehr bedingt. Die erstaunliche Schöpferkraft, die sich in diesen gleichsam neuentdeckten Dichtungen offenbarte, erzwang sich zwar die Bewunderung eines Geschlechts, das von dem Geschmack und der Naivetät des 16. Jahrh. nichts mehr wußte. Es war aber durchaus natürlich, daß man lange Zeit hindurch die Größe des Dichters nur unter entschiedenem Protest gegen seine vermeintliche Roheit und Formlosigkeit anerkannte. Die Nacktheit in der Darstellung der Leidenschaften, die freie Wahl der Bilder aus allen Lebensgebieten, die Vermischung des Tragischen und des Komischen, der Mangel an akademischer Korrektheit, die Verletzung der drei dramat. Einheiten, alles dies betrachtete man als Zeichen einer Barbarei, der es an der Kenntnis klassischer Muster gefehlt habe. Selbst Garrick hielt es für erforderlich, die Stücke nicht nur durch starkes Beschneiden, sondern durch völlige Abänderung allzu erschütternder Katastrophen dem Zeitgeschmack anzupassen. Allmählich wuchs aber ein neues Geschlecht heran, das mit unverwöhntem Auge die Werke S.s in unverstümmelter Gestalt las und sich ohne Voreingenommenheit dem gewaltigen Eindruck hingab. Diesem ging in S. eine ganz neue Welt der Poesie auf, die ihresgleichen weder bei den Alten noch bei den Neuern hatte, und für die alle Gesetze und Maßstäbe der Schule unbrauchbar erschienen. Dies zuerst deutlich erkannt und siegreich nachgewiesen zu haben, ist Lessings Verdienst. Er führte zumal in der «Hamburgischen Dramaturgie» den Beweis, daß die Schulregeln, deren Verletzung man S. zum Vorwurf machte, mit dem Wesen des Dramas nichts zu schaffen hätten, und daß der vermeintliche Barbar die höchsten Aufgaben der Kunst gelöst habe. Die Stürmer und Dränger bekannten sich begeistert zu ihm, und Goethe vor allem folgte in «Götz» den Spuren S.s mit einem Erfolg, der einer litterar. Umwälzung gleichzuachten ist. Auf der deutschen Bühne bürgerte namentlich Friedr. Ludwig Schröder in Hamburg die bedeutendsten Tragödien S.s ein. Alsdann gaben vorzüglich A. W. Schlegels elegante und leichtfaßliche Übertragungen den Anstoß zu einer ganz neuen Beurteilung S.s. Zuerst in England, dann auch in Frankreich und Italien machte sich, außer in Deutschland, die Umwälzung des Geschmacks bemerklich, zum Teil allerdings in äußerlicher Nachäffung, vornehmlich aber in einer neuen Vertiefung der Poesie, in einer heilsamen Überwindung der akademischen Tradition, in gesteigerter Freiheit, Kühnheit und Wahrheit der dichterischen Behandlung, und diese Wirkungen beschränkten sich nicht auf die Bühne, sondern umfaßten allmählich die gesamte schöne Litteratur, sie berührten aufs tiefste auch diejenigen, die sich abwehrend verhielten (Schiller, Byron), und man kann unschwer den Einfluß des Shakespeare-Kultus selbst auf entlegenern Gebieten (Philosophie, bildende Kunst, histor. Stil) nachweisen.

Im 19. Jahrh. verbreiteten zahllose Ausgaben und Übersetzungen in alle Litteratursprachen seine Werke über die ganze civilisierte Welt. Forschungen, Kommentare, Abhandlungen häufen sich massenhaft und bekunden ein noch fortwährend steigendes Interesse an diesen Dichtungen. Deutschland und England wetteifern miteinander sowohl in dem philol. Studium als in der ästhetischen Würdigung. Die im ganzen höchst heilsame und fruchtbare Bewegung ist von einzelnen Verirrungen nicht frei geblieben, die aber einen nachhaltigen Schaden nicht anrichteten. Sie bestehen vornehmlich in einer nicht so sehr übertriebenen als irrigen Verherrlichung des Dichters und in der Sucht, den Schöpfungen S.s verborgene Tendenzen anzudichten, die aller wahren Kunst und vollends der seinigen fremd sein müssen. Aus dem Ärger über derartige Überschwenglichkeiten und Spitzfindigkeiten ist in neuerer Zeit eine Reaktion entstanden, die die Bedeutung des Dichters herabdrücken will und im wesentlichen zu dem Standpunkt Samuel Johnsons im 18. Jahrh. zurückkehrt, wenn sie auch in anerkennenden Phrasen freigebiger ist, daß nämlich S. ein bewußtlos schaffendes Naturgenie, von vielen Gaben, aber ohne Schulung, der rohe Dichter einer rohen Zeit gewesen sei (Rümelin in den «Shakespeare-Studien», Stuttg. 1866; 2. Aufl. 1873, und Benedix in der «Shakespearomanie», ebd. 1873).

Die ihm angemessene Kunstform fand S. auf der altengl. Bühne vor; ihre Einrichtung und ihre Überlieferungen zogen der freiesten Bewegung seiner Phantasie keine andern Schranken als die, welche Raum, Zeit und Geldmittel ihm notwendig auferlegten. In allen äußerlichen Dingen, in Stil, Wahl der Mittel, Anstandsregeln u. s. w. hemmten ihn keinerlei konventionelle Gesetze; die Wahl und Behandlung der Stoffe standen ganz in seinem Belieben; niemand verlangte damals von einem Erzeugnis der Phantasie die Beachtung des Kostüms und der Lokalfarben. Von dieser Freiheit hat S. ohne Bedenken vollen Gebrauch gemacht. Aber das äußerliche berührt nicht das Wesen der Kunst, und wenn S. alle wesentlichen Ziele der letztern mit seiner Form erreicht hat, so ist es thöricht, zu sagen, diese sei keine Kunstform, anzunehmen, ein ohne Berechnung und Überlegung, lediglich mit instinktivem Feuer hingeworfenes Drama von fünf langen Akten sei im stande, Wirkungen zu erzielen, gegen die der Eindruck der berühmtesten Tragödien alter und neuer Zeit verblaßt. Ein genaues Studium der S.schen Stücke führt denn auch zur Einsicht, daß der künstlerische Verstand des Dichters in Anordnung, Aufbau, Abänderung des überlieferten, fast nie von ihm erfundenen Stoffs einen bedeutenden Teil an der Arbeit gehabt hat. Die Einfachheit seiner Bühne muß man freilich stets vor Augen haben, um die Technik seiner Stücke nicht